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Begehrte Männer mit dicken Bäuchen

Neben Seepferdchensex erzählt der Wissenschaftsjournalist Till Hein viel Wissenswertes von den beeindruckenden Rössern der See.

Wenn es bei Seepferdchen zum Sex kommen soll, ergreift das Weibchen die Initiative. Erst kuscheln und tanzen beide stundenlang. Damit es dann zur Sache geht, gibt das Weibchen das Signal: Es schwimmt zur Wasseroberfläche, deutet mit der Schnauze nach oben und reckt seinen Körper kerzengerade, was auf das Männchen unwiderstehlich wirkt. So angemacht, drückt es sein Kinn gegen die Brust und schnappt mit seinen Greifschwanz aufgeregt hin und her. Dann pressen sich beide aneinander, und das Weibchen stülpt aus ihrem Körper eine Art Penis, mit dem sie in die geräumige Bauchtasche des Männchens ihre Eizellen spritzt. Und der »Hengst« wird schwanger. Wochen später gebärt das männliche Tier 100 oder 1000 »Fohlen« – dann geht das Ganze gleich wieder von vorne los. So ein Seepferdchen-Männchen ist quasi dauerschwanger. Werben mehrere Männchen um ein Weibchen, blasen sie ihre Bäuche so groß wie möglich auf, um den Weibchen gute Gebärfähigkeit anzuzeigen. Doch diese können sich nicht immer entscheiden: Es kommt auch vor, dass ein Weibchen seine Eizellen auf zwei Männerbäuche aufteilt.

Umgekehrte Geschlechterrolle

Auch jenseits des außergewöhnlichen Fortpflanzungsverhaltens von Seepferdchen und ihrer umgekehrten Geschlechterrolle bieten die Tierchen viel Staunenswertes – so viel, dass es für ein ganzes Buch reicht. Der Wissenschaftsjournalist Till Hein beginnt sein Werk »Crazy Horse« mit einem Geständnis: Einmal hat er ein gegrilltes Seepferdchen gegessen. Nach dem zweifelhaften Genuss notierte er: »Sein Aroma erinnerte an Pappe und Ruß. … Halb garer Schlangenhaut geschmacklich überlegen.«

Seepferdchen sind faszinierende Wesen, die zu zahlreichen Mythen inspiriert haben. Anmutig und grazil, können sie ihre Farbe ändern wie ein Chamäleon. In Aquarien gehalten sollen sie eine meditative Ausstrahlung haben. Je nach Stimmung leuchten sie in unterschiedlichen Farben. Sie haben nicht nur einen biegsamen Greifschwanz, eine hübsche Krone auf dem Kopf, der an ein Pferd erinnert – einige haben auch leuchtend pinke oder gelb-orange Furunkel, während andere gestreift sind wie ein Zebra oder eine Schnauze wie ein Ferkel besitzen.

Seepferdchen sind keine Säugetiere, sondern Fische. Einige zählen sogar zu den langsamsten der Welt. Doch obwohl diese Fische ohne Gräten nicht schneller vorankommen als Weinbergschnecken, jagen und futtern die Räuber bis zu 4000 Kleinstkrebse pro Tag – und das ohne Magen. Sind sie genervt, wenn man sie zum Beispiel aus dem Aquarium heraushebt, dann geben sie ein tiefes, unwilliges Brummen von sich.

Auf das Wohlbefinden von Seepferdchen nehmen nicht alle Rücksicht. So steht zwar in einem aktuellen Artikel der »Zeit« über sie: Feinde haben sie unter den Menschen nicht. Doch jedes Jahr werden um die 20 Millionen Exemplare für fragwürdige medizinische Anwendungen getötet. Ein Kilo ist 3000 US-Dollar wert, dreimal so viel wie die gleiche Menge an Silber. Gegen Pusteln, Geschwüre, Knochenbrüche, Krebs – eigentlich gegen fast alle Krankheiten – soll getrocknetes Seepferdchen-Pulver helfen, vor allem gegen Inkontinenz und als Potenzmittel. Schon seltsam bei einem Tier, bei dem das Männchen schwanger wird. Weitere rund 40 Millionen Exemplare gehen bei Schleppnetzeinsätzen als Beifang verloren. Und der Klimawandel vernichtet ihren Lebensraum, die Seegraswiesen.

Till Hein weiß nicht nur viele »verrückte« Sachen zu berichten, er schreibt amüsant und lehrreich. Nach der Lektüre fragt man sich jedoch, ob der Titel nicht besser »Verrückte Menschen« lauten müsste. Wer diese Tiere vernichtet und ihre Lebensgrundlage zerstört, ist wohl eher der vernunftwidrig Handelnde. Von den 44 Seepferdchenarten sind jetzt schon 15 stark bedroht.

Dabei kann der Mensch – abseits von fragwürdigen Potenzmitteln – tatsächlich von den Tierchen profitieren: Der Aufbau ihres Greifschwanzes aus rechteckigen Quadern hat bereits die Robotik inspiriert. Und einige Geheimnisse haben die Hengste und Stuten der Meere bislang für sich behalten. Sie besitzen ein noch nicht ganz entschlüsseltes, ungewöhnliches Immunsystem. Dessen Erforschung könnte damit Menschen mit Immunschwächekrankheiten helfen.

Man kann die Seepferdchen aber auch »einfach nur so« schön und schützenswert finden. Das Buch hilft jedenfalls dabei.

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