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Vertrauen wiedergewinnen

Deutschland exportiert mehr chemische Güter als jedes andere Land, und seine Chemieindustrie belegt mit einem Umsatz von 188 Milliarden Euro (2013) den Spitzenplatz in Europa. Die Branche bietet mehr als 430 000 Menschen Arbeit und gehört zu den forschungsstärksten Industriezweigen – gaben heimische Chemieunternehmen 2012 doch knapp zehn Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Jedes sechste Chemiepatent wird in Deutschland angemeldet, und bereits 28-mal erhielten deutsche Forscher den Chemie-Nobelpreis – zuletzt Gerhard Ertl im Jahr 2007 für seine Studien zu chemischen Verfahren auf festen Oberflächen. Ob Aspirin, Ammoniaksynthese, Mineraldünger, Backpulver, Kohleverflüssigung, Polymerchemie oder Flüssigkristalle: Chemie aus Deutschland verändert seit 200 Jahren die Welt. So ließe sich ohne die bahnbrechende Erfindung des Haber-Bosch-Verfahrens die Weltbevölkerung heute überhaupt nicht ernähren.

Die schlechten Eindrücke bleiben

Trotzdem misstrauen viele Menschen der Chemie. Denn Katastrophen brennen sich nachhaltiger in die Erinnerung ein als die Segnungen einer Technologie. Ereignisse wie der Dioxin-Unfall im italienischen Seveso 1976, die Chemiekatastrophe im indischen Bhopal 1984 oder der Sandoz-Großbrand 1986 in der Schweiz haben ihre Spuren im kollektiven Gedächtnis der Menschen hinterlassen. Noch im Jahr 2008 assoziierten mehr als ein Drittel der Befragten in einer Studie den Begriff "Chemie" mit dem Begriff "Unfall". Derart zerstörtes Vertrauen ist nur schwer zurückzugewinnen.

Doch genau darum bemüht sich Karl-Ludwig Kley in diesem Buch. Er plädiert dafür, die Chemiebranche nicht pauschal zu verdammen. Dabei äußert er sich als direkt Beteiligter: Kley ist seit April 2007 Vorstandschef der Darmstädter Chemiefirma Merck, dem Weltmarktführer für Flüssigkristalle, zudem amtiert er seit 2012 als Präsident des Verbands der Chemischen Industrie. Wie man bereits am Titel des Buchs ablesen kann, gelingt es ihm nicht immer, diese Rollen abzuschütteln. Manchmal betreibt er offensichtlich Verbands- und Industriepolitik, beispielsweise wenn er fordert, man solle die Wirtschaft den Markt gestalten lassen.

Erkennbare Voreingenommenheit

Zwar fordert Kley offene Debatten über Chancen und Risiken verschiedener Techniken, etwa der Einführung gentechnisch veränderter Pflanzen oder Tiere in Deutschland, der unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid oder der Förderung von Schiefergas. Er scheint sich aber nur schwer damit abfinden zu können, wenn eine Mehrheit gegen die Einführung dieser Techniken votiert, weil sie gravierende Umweltschäden fürchten lassen. Auch die begrenzte Verfügbarkeit von Rohstoffen unterschlägt er meines Erachtens allzu geflissentlich.

Andererseits ist sein Appell, doch bitte einen sachlicheren Blick auf das Fachgebiet Chemie zu werfen, zu loben. Wie andere Wissenschaften braucht auch die Chemie eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens. Zu Recht bemängelt Kley, die Industrie werde als etwas Unnatürliches wahrgenommen. Dabei ignorierten viele, dass die Natur selbst pure Chemie ist. Er verweist darauf, dass Kochen und Backen zu den vermutlich ältesten chemischen Arbeiten gehören und die Küche ein regelrechtes Chemielabor ist. Jede lebende Zelle sei eine kleine biochemische Fabrik und unser Erbmolekül, die DNA, nichts anderes als eine Chemikalie.

Weg von Schwarzweißbildern

In der deutschen Chemieindustriehabe zudem ein Umdenken eingesetzt, betont Kley. Die Zahl der Chemieunfälle in deutschen Unternehmen sei kontinuierlich zurückgegangen. Und habe es in den 1960er Jahren im Rhein noch dramatische Fischsterben gegeben, gedeihten dort nun wieder Lachse.

Ohne Chemieindustrie und -forschung, schreibt der Autor, wäre Deutschland schwerlich zu einer führenden Industrienation aufgestiegen. Bei der Frage, wohin das Land künftig steuern soll, führe daher kein Weg an der Chemiebranche vorbei. Was wir deshalb brauchten, sei die Abkehr vom pauschalen Freund-Feind-Denken. Dafür möchte er mit seinem Buch den Weg bereiten.

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