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Darwins Jahrhundertwerk

Seine epochale Artentheorie veröffentlichte der Naturforscher erst nach langem Zögern.

Charles Darwins "Über die Entstehung der Arten" (On the Origin of Species) liegt jetzt neu aufbereitet in adaptierter deutscher Übersetzung vor – illustriert mit Fotos und Abbildungen aus Darwins Werken, mit Gemälden und historischen Karikaturen. Auszüge aus seiner Autobiografie, seinen Reisebeschreibungen und Briefen gesellen sich hinzu. Heraus kommt ein mächtiger Band, der seine Leser fordert, aber großartige Lektüre bietet.

Ein wenig erstaunt es, dass der Verlag die Übersetzung Heinrich Georg Bronns von 1860 herangezogen hat (und leicht modifizierte, um sie an heutige Sprachgewohnheiten anzupassen). Sie ist verschiedentlich kritisiert worden, da sie sich inhaltliche Veränderungen herausnahm. Als Standardübersetzung dient meist die von Julius Victor Carus (1876).

Der lange Weg zur publizierten Theorie

In der Einführung umreißt Wissenschaftsautor David Quammen die Geschichte hinter dem berühmten Buch. Als 16-Jähriger beginnt Darwin ein Medizinstudium. Da es ihn langweilt, bricht er nach zwei Jahren ab und wechselt zur Theologie. 1831 macht er sein Examen darin und geht als Naturforscher an Bord des Vermessungsschiffs "Beagle". Während der folgenden mehrjährigen Reise reift er zu einem akribischen Wissenschaftler. Die Beobachtungen, die er weltweit macht, lassen ihn schon bald vermuten, dass die Arten veränderlich sind.

Zurück in England führt Darwin Notizbücher zur "Transmutation" der Arten. Er liest, sichtet Proben, experimentiert, korrespondiert. 1838 umreißt er erstmals das Prinzip der Evolution, veröffentlicht es aber nicht. 19 weitere Jahre vergehen, in denen er Material sammelt, seine Cousine Emma Wedgwood heiratet, mit ihr aufs Land zieht, zehn Kinder mit ihr bekommt, seine Beagle-Bände herausbringt und über Rankenfußkrebse forscht (für diese Arbeiten erhält er die Royal Medal). Er schreibt mehrere Entwürfe der Artentheorie, stopft sie aber in die Ablage. 1857 beginnt er ein "großes Buch" über Arten. Als er eine Viertelmillion Wörter hat, erreicht ihn ein Aufsatz des Naturforschers Alfred Russel Wallace, in dem dieser eine ganz ähnliche Evolutionstheorie umreißt. Kurz darauf bekommen beide die Urheberschaft an der Idee zugesprochen. Darwin beginnt neu zu schreiben, diesmal vergleichsweise knapp und schnell. 1859 legt er die "Entstehung" vor; die erste Auflage ist am Tag des Erscheinens vergriffen. Fünf weitere Auflagen folgen noch zu Darwins Lebzeiten.

Bronns Übersetzung ist für heutige Lesegewohnheiten ziemlich anstrengend, da im umständlich weitschweifigen Stil des 19. Jahrhunderts formuliert: "Weit nötiger ist es aber, noch im Gedächtnis zu behalten, dass es viele noch unbekannte Wechselbeziehungen des Wachstums gibt, welche, wenn ein Teil der Organisation durch Variation modifiziert und wenn diese Modifikationen durch natürliche Züchtung zum Besten des organischen Wesens gehäuft werden, dann wieder andere Modifikationen oft von der unerwartetsten Art veranlassen." Es kostet Mühe, dem hunderte Seiten lang zu folgen, aber es lohnt sich. Denn inhaltlich ist das Buch überaus beeindruckend.

Selektion durch den Menschen und seitens der Natur

Im Fokus des Werks steht die Zucht von Pflanzen und Tieren. Darwins zentrales Argument: Wenn der Mensch Tier- und Pflanzenrassen züchten kann, die so stark von Wildformen abweichen, wie sehr muss dann erst die Natur die Arten abändern können, die dafür viel mehr Zeit hat? Ein Züchter wählt Individuen aus, die das gewünschte Merkmal etwas stärker ausprägen als andere, und indem er bevorzugt sie vermehrt, bringt er Nachkommen mit noch größerer Abänderung hervor – er verstärkt anfänglich kleine Unterschiede über Generationen hinweg, bis sie zu großen geworden sind. In der Natur, so Darwin, gehe das ähnlich vonstatten ("natürliche Zuchtwahl").

Darwin war selbst Taubenzüchter und daher auch praktisch mit dem Thema vertraut. In seinem Buch erörtert er überwältigend viele Befunde aus der Pflanzen- und Tierzucht und vergleicht sie mit Beobachtungen an Wildformen. Auf hunderten Seiten führt er Untersuchungen, Korrespondenzen und Literaturverweise an, und doch jammert er, nicht genug Raum zu haben, um sein gesamtes Material vorzulegen.

Es ist kaum zu glauben, was Darwin in dem Werk alles behandelt: Artenwandel durch Domestikation und in der Natur; Kreuzung und Bastardbildung; natürliche Instinkte; geologische Überlieferung und Fossilien; geografische Verbreitung der Arten; Morphologie und Entwicklungsbiologie und so weiter. Ausführlich befasst er sich mit Einwänden gegen seine Theorie, entkräftet sie oft, weist aber auch auf Lücken in seinem Gedankengebäude hin. Mit jeder Seite wird deutlicher, wie haltlos die Annahme ist, die Arten seien in eigenständigen Schöpfungsakten erschaffen worden – und wie viel plausibler die These, dass die Arten abändern, auffächern und der natürlichen Selektion unterliegen.

Entwicklung des Lebens | Anhand dieses Bilds erläuterte Darwin den Artenwandel. A bis L stehen für verschiedene Spezies und die römischen Zahlen für die jeweils x-te Nachfolgegeneration; zwischen zwei waagerechten Linien können beispielsweise 1000 Generationen liegen. Das Diagramm zeigt, wie die Arten A und I in mehrere Spezies auffächern, während F weitgehend unverändert überdauert und die anderen Arten erlöschen.

Mit den Mitteln seiner Zeit

Bei alldem ist zu bedenken, dass Darwin die Molekulargenetik nicht zur Verfügung stand. Vom Aufbau der Nukleinsäuren, vom genetischen Kode und den diversen Mutationsarten konnte er noch nichts wissen; sein Buch erschien 84 Jahre vor dem Nachweis, dass die Erbinformation über DNA weitergegeben wird. Wenn er beispielsweise betont, Abänderungen häuften sich stets langsam und allmählich, muss man sich klarmachen, dass ihm sprunghafte Änderungen etwa mittels Gendeletionen oder -duplikationen nicht gewärtig sein konnten. Umso verblüffender, wie oft seine Vermutungen zutreffen, wenn er den Gesetzen der Abänderung nachgeht.

Ein gelungenes Gegengewicht zum anspruchsvollen Haupttext bieten die eingestreuten Auszüge aus Darwins Autobiografie, seinen weltweiten Briefwechseln mit Freunden und Kritikern und seinen Reisebeschreibungen. In den Beagle-Berichten erzählt der Naturforscher lebendig und spannend von seinen Erlebnissen: wie er mit Gauchos durch Südamerika ritt, mit Feuerländern in Kontakt kam und natürlich immer wieder, wie sehr ihn die fremde Pflanzen- und Tierwelt faszinierte. Er zeigt sich hier nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als begeisterter Jäger, Abenteurer und mitunter sehr witziger Erzähler. Die vielen stimmigen, oft großformatigen Bilder sind passend ausgewählt, schön anzusehen und bieten dem Auge viel Abwechslung – auch wenn die Bildunterschriften vereinzelt nicht ganz geglückt sind.

Alles in allem ein sehr gut aufbereiteter Band mit wundervollen Illustrationen, und nicht nur für geschichtlich Interessierte lesenswert. Man fragt sich, was Darwin zur heutigen Molekulargenetik gesagt hätte – wenn er gesehen hätte, wie richtig er lag. Er wäre wohl begeistert gewesen.

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