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Die Wissenschaft als Mittfünfzigerin

"Das, was wir heute in der Wissenschaft entdecken, wird die Lebensbedingungen unserer Zukunft bestimmen", davon ist Lars Jaeger überzeugt. Ginge es nach dem Physiker und Philosophen, sollte die Öffentlichkeit deshalb gespannt die neuesten Entwicklungen in Stammzellforschung und Quantenphysik verfolgen und qualifiziert über Chancen und Risiken diskutieren. Doch stattdessen, so kritisiert er, würden selbst politische Entscheidungsträger, Manager und Journalisten vor naturwissenschaftlichen Themen zurückschrecken. Obwohl die Wissenschaft unser heutiges Leben mit Elektrizität, Antibiotika und Internet überhaupt erst ermöglicht habe, erscheine sie den meisten als zu kompliziert, um sich damit auseinanderzusetzen.

Das möchte Jaeger mit seinem Buch ändern. In seiner "Biografie" der Naturwissenschaften schlägt er einen weiten Bogen von den Anfängen wissenschaftlichen Denkens in der griechischen Antike bis zu heutigen Forschungsthemen wie Künstliche Intelligenz, Quarks und Gentechnik. Dabei vergleicht er deren Entwicklung mit einem menschlichen Lebenslauf: In die Welt geholt von "Geburtshelfern" wie den griechischen Naturphilosophen, etwa Aristoteles (4. Jh. v. Chr.), durchlebten die Wissenschaften im Mittelalter eine lange Kindheit, kamen mit Beginn der Neuzeit in die Pubertät und lehnten sich rebellisch gegen althergebrachte Institutionen wie die Kirche auf. Die Institutionalisierung im 19. Jahrhundert markiert den Schritt ins Erwachsenenleben, der zweite Weltkrieg den Beginn einer Midlife-Crisis, die gekennzeichnet ist von Fragen bezüglich der Forschungsethik und bis in die 1990er Jahre andauert. Heute, so der Autor, sei die Wissenschaft in ihren "Fünfzigern" angekommen und ausgereift, sie sei sich ihrer Verantwortung bewusst und schmiede durchdachte Pläne für die Zukunft. Diese Analogie zieht sich als roter Faden durch die Erzählung und hilft dabei, sich historische Prozesse immer wieder bewusst zu machen. Auf einzelne Aspekte wie Einsteins Relativitätstheorie geht der Autor sehr detailliert ein.

Auf dem Zeitstrahl reiten

Jaeger eröffnet eine neue Perspektive auf große physikalische Theorien. So arbeitet er heraus, welche Ungereimtheiten in den Differentialgleichungen des schottischen Physikers James Maxwell (1831-1879) die Relativitätstheorie erst nötig werden ließen, welche Probleme Einstein damit löste und welche neuen Fragen er aufwarf. Die Idee, komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte über ihre Entwicklung greifbar zu machen, ist in dem Buch grundsätzlich gut umgesetzt. Wenn man liest, wie Forscher zu ihren Erkenntnissen gekommen sind, hat man den Eindruck, ihre Gedankengänge tatsächlich nachvollziehen zu können. Dennoch wird Jaeger seinem Anspruch, laienverständlich zu schreiben, nicht ganz gerecht. Er verzichtet zwar fast vollständig auf Formeln, nicht aber auf Fachsprache. Dass seine ohnehin recht komplizierten Sätze immer wieder Grammatikfehler enthalten, erschwert das Lesen zusätzlich.

Fachlich versierte Leser können sich von der Begeisterung des Autors anstecken lassen: Er vermittelt eindrücklich, wie eng naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft sind und welch große Bedeutung die Wissenschaft daher für jeden Einzelnen besitzt. Einmal mehr wird auch deutlich, wie sehr Philosophie und Physik einander beeinflussen. Jaeger selbst hat beide Fächer studiert. Mit Blick auf die antiken Philosophen zeigt er, wie diese allein durch Nachdenken auf Ideen kamen, die erst Jahrtausende später mit wissenschaftlichen Methoden belegt wurden. Andersherum verdeutlicht er, wie physikalische Erkenntnisse unser Weltbild bis in die Grundfesten erschüttern können, angefangen mit Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der der Erde den Platz im Zentrum des Universums absprach, bis hin zu Einstein, der Raum und Zeit ihre Absolutheit nahm.

Im letzten Kapitel fasst Jaeger den heutigen Stand verschiedener Fachgebiete von Astrophysik bis Hirnforschung zusammen und prognostiziert, welche Entwicklung sie künftig nehmen könnten. Sein Buch macht Lust darauf, die "Vita" der Naturwissenschaften weiter zu verfolgen, und liefert das nötige Wissen, um neue Erkenntnisse einordnen zu können.

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