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Der Anfang im Ende

Nach "Der Untergang des Römischen Weltreiches" (2009) legt der englische Althistoriker Peter Heather nun mit "Die Wiedergeburt Roms" erneut ein glänzend geschriebenes Buch vor, das über den kulturhistorisch bedeutsamen Transformationsprozess von der Spätantike zum Frühen Mittelalter handelt. Das Thema ist ebenso spannend wie hochaktuell, geht es doch um Globalisierung und Migration. Schon nach wenigen Seiten wird offenkundig: Die Migrationsströme des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung sind mit denen der Gegenwart durchaus vergleichbar. Häufiger als politische Verfolgung veranlasste wirtschaftliche Not die Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Das Wohlstands- und Zivilisationsgefälle zwischen den germanischen und slawischen Stammeskulturen einerseits und dem prosperierenden Römischen Reich andererseits setzte eine dynamische Wanderungsbewegung in Gang, die beide Kulturräume nachhaltig veränderte und am Ende ein christliches Europa als neue Einheit hervorbrachte. Als Stabilitätsanker in unruhigen Zeiten erwies sich bald nach der Jahrtausendwende das Papsttum, dessen Stellvertreter Christi auf Erden nach dem Zerfall des Karolinger-Reichs eine neue Art von "Imperium" schufen, das bis auf den heutigen Tag Bestand hat.

Der Untergang des Römischen Reichs im Westen wird gemeinhin in das Jahr 476 n. Chr. datiert, als der Germane Odoaker (um 433-493), ein Gefolgsmann des Hunnenkönigs Attila, den minderjährigen Romulus Augustulus als letzten Kaiser Westroms absetzte und sich selbst zum König von Italien aufschwang. Fortan herrschten die Angelsachsen über Britannien, die Franken über das östliche Gallien, die Westgoten über Südwestgallien und Spanien und die Vandalen über Nordafrika. Bald danach drangen slawische Völkerschaften nach Osteuropa vor.

In den folgenden Jahrhunderten scheiterten zunächst alle Anstrengungen, in Europa ein Reich zu errichten, das in räumlicher Ausdehnung und Stabilität dem Imperium Romanum vergleichbar gewesen wäre. Wie und warum, erklärt Heather, der am Londoner King’s College lehrt, in brillanter Weise.

Dreimal bemüht – dreimal vergebens

Theoderich der Große (um 453-526), mächtiger Ostgotenkönig, der seine Herrschaft in die imperiale Tradition Roms stellte, versuchte es. Er schloss Frieden mit dem oströmischen Kaiser in Konstantinopel, ließ Odoaker ermorden und etablierte auf italischem Boden ein Königtum mit Sitz in Ravenna. Er schmiedete zahlreiche Allianzen mit jenen Mächten, die sich Ende des 5. Jahrhunderts neu formierten. Allerdings ging dieses mühsam ausgehandelte politische Konstrukt nach Theoderichs Tod rasch in die Brüche.

Einen weiteren Anlauf unternahm der oströmische Kaiser Justinian (um 482-565). Sein genialer Feldherr Belisar schlug die Vandalen in Nordafrika und die Ostgoten in Dalmatien, Italien, Sizilien und Rom. Dieser Versuch, das Imperium mit militärischen Mitteln wiederzubeleben, misslang ebenfalls. Nach Heathers Ansicht lag das weniger an Justinian selbst, sondern vielmehr am kräftezehrenden Konflikt mit Persien.

Und dann war da noch der Karolinger Karl der Große (um 748-814), der erste "Heilige römische Kaiser", der sich am Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. in der konstantinischen Basilika in Rom krönen ließ. Gestützt auf seine gefürchteten fränkischen Reiter eroberte er ein gewaltiges Reich, bis er den Großteil des westlichen Europas beherrschte. Seine Macht nutzte er für tiefgreifende Reformen. Doch auch Karls Lebenswerk war nicht von Dauer. Nachdem der als "Vater Europas" gepriesene Franke gestorben war, zerfiel sein Reich in mehrere Teile.

Selbstzerfleischung der Regionalfürsten

Alle drei Herrscher konnten letztlich nicht an die imperiale Tradition Roms anknüpfen. Die Gründe hierfür sieht Heather vornehmlich in einem dramatischen Schwund an Territorium. Die Gebietsverluste des sich ehedem vom Atlantik bis zum Euphrat, von Britannien bis Nordafrika erstreckenden Römerreichs hatten die fiskalische und militärische Grundlage der römischen Herrschaft zerstört, da Steuerzahlungen ausblieben und schlagkräftige Armeen nicht mehr aufgestellt werden konnten. Diese Schwäche hatten Kriegerverbände an der Peripherie des Imperiums – wie eben Goten, Vandalen und später Franken – für eigene Ambitionen ausgenutzt. Nun aber, nach dem Untergang Roms, fanden sie sich in einem stark konkurrierenden Umfeld wieder. Ihren sich gegenseitig bekämpfenden Partikulargewalten, so Heather, war es nicht mehr möglich, überregional gefestigte Herrschaftsstrukturen zu errichten.

Allerdings, meint der Autor, schuf Karl der Große etwas von weit größerer Bedeutung als sein eigenes Reich. Seine Reformen in den Bereichen Bildung und Religion ließen eine mächtige lateinische Kirche mit starker kollektivstiftender Identität und solider institutioneller Basis entstehen, die einer neuen Autorität den Boden bereitete: dem Papsttum. Dessen Repräsentanten ermöglichten es, mit Reformen und Waffen eine Art religiösen Einparteienstaat zu errichten. Hierbei gelang es ihnen, den alten Mythos von Roms universeller Sendung zur christlichen Mission umzudeuten.

Mit der "Wiedergeburt Roms" ist Heather einmal mehr ein großer Wurf gelungen. Sein Buch verbindet lebendige Geschichtsschreibung mit detaillierter Analyse und trägt bedeutend zum Verständnis der nachrömischen Historie Europas bei.

Korrektur des Rezensenten:

In einer früheren Artikelversion hatte der Rezensent versehentlich Ungarn und Awaren als Slawen bezeichnet sowie das Aufkommen des Islam mitverantwortlich für das Scheitern Justinians gemacht. Hierzu bemerkt er richtigstellend: Ungarn und Awaren waren keine slawischen Völkerschaften. Bei den Awaren handelte es sich um ein ursprünglich aus Innerasien stammendes nomadisches Reitervolk, das im Zuge der Völkerwanderungszeit nach Europa immigrierte und in der pannonischen Tiefebene seinen Siedlungsmittelpunkt hatte – und in enger Verbindung mit den Slawen stand. Die Ungarn waren ein der finno-ugrischen Sprachgemeinschaft angehörendes Reitervolk, das ursprünglich in der Umgebung des Uralgebirges ansässig war und auf seinem Zug nach Westen im Gebiet zwischen Donau und Dnepr siedelte. Kaiser Justinian erlebte nicht mehr das Aufkommen des Islam, da er 565 n. Chr. starb. Heather versucht in dem entsprechenden Kapitel allgemein die wachsende Bedrohungslage durch Sassaniden und Muslime an der Ostflanke des Oströmischen Reiches als Teil eines längeren Prozesses darzustellen, der die Zeit Justinians, aber auch die seiner Nachfolger einschließt. Insofern ist die "wachsende Bedrohung durch den Islam" auf die Zeit nach Justinian, das heißt von der Regierung des Herakleios (610-641) an, zu beziehen.

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