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Alternativ oder albern?

Im Titel der englischen Originalausgabe "Cure: A Journey into the Science of Mind over Body" ist das Wort "Wissenschaft" nicht umsonst enthalten. Titel, Klappentext und Einband der deutschen Ausgabe hingegen locken die Käufer auf eine falsche Fährte, indem sie dem Werk einen esoterischen Anstrich verleihen – mit dem es sich garantiert nicht wohlfühlt. Auch wenn die Leser hier und da einen Ratschlag bekommen, wie sie mit der eigenen Gesundheit umgehen sollten, handelt es sich ganz überwiegend um ein wissenschaftliches Sachbuch.

Jo Marchant, englische Wissenschaftsjournalistin, promovierte Mikrobiologin und frühere Redakteurin bei "Nature", glänzt mit umfangreicher Recherche und sauberen Belegen sowie Zitaten. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über jene Phänomene, bei denen die Psyche den Körper in teils phänomenaler Weise beeinflusst. Dabei plädiert die Autorin immer wieder für einen offeneren Umgang mit Methoden der Alternativmedizin: "Wir müssen wissenschaftliche Befunde und logisches Denken nicht (...) verleugnen, um von den heilenden Eigenschaften der Psyche zu profitieren."

Mit der Kraft des Nichts

Die Verfechter manch alternativmedizinischen Verfahrens werden von dem Werk allerdings eher mäßig begeistert sein. Zwar lehnt Marchant die Homöopathie nicht ab und bestreitet auch nicht, dass diese wirke. Allerdings führt sie deren gesundheitlichen Effekte weniger auf die (nicht enthaltenen) Wirkstoffe zurück, sondern mehr auf die Aufmerksamkeit der behandelnden Ärzte und den Placeboeffekt.

Die Autorin präsentiert einen Fall nach dem anderen, wo die Schulmedizin entweder am Ende ihrer Weisheit angelangt ist und Alternativmedizin als einziger weiterführender Weg erscheint, oder wo die letzte nicht schlechter abschneidet als die erste – aber manchmal weniger Nebenwirkungen hat. Einige der Beispiele sind verblüffend bis spektakulär. So macht es, laut einer durchaus ernst zu nehmenden Studie im "New England Journal of Medicine", bei einer bestimmten Wirbelsäulen-OP keinen Unterschied für die Patienten, ob der Eingriff wirklich durchgeführt wird oder der Chirurg nur so tut.

Wo in unserem Gesundheitssystem Chancen ungenutzt bleiben, und warum das so ist – darauf geht Marchant in dem Werk ein. So ist ein häufiges Argument der Alternativmedizin-Befürworter durchaus berechtigt: Forschungsgelder werden häufig da investiert, wo etwas zu verdienen ist. Staatliche Systeme könnten und sollten dem in vielen Fällen entgegenwirken. Wieder andere Projekte scheitern an Denkbarrieren, und etliche Verbesserungen, die einfach zu bewerkstelligen wären, bleiben in bürokratischen Mühlen stecken.

Somatik ohne Psycho?

Die in dem Buch behandelten Themen sind sehr vielfältig, sogar etwas zu facettenreich. Placeboeffekt, Konditionierung, Erschöpfungspsychologie, Hypnose, Patientengespräch: Die Autorin zeigt auf, wo überall die Psychosomatik eine Rolle spielt. Da stellt sich mitunter die Frage ein, wo sie das denn nicht tue. Es folgen sehr viele Themen aufeinander, und dabei geht mitunter der Überblick und manchmal auch der rote Faden verloren.

Hervor sticht der erste Teil des Buchs, in dem es um den Placeboeffekt geht und seine teils phänomenalen Auswirkungen. Marchants Diskussion, wie sich der Effekt professionell einsetzen ließe, ist äußerst fesselnd. Auf die teils sehr trivialen persönlichen Erfahrungen und Fallbeispiele aus anderen Bereichen, etwa zur Wirkung positiver Umgebungen auf Gesundheit und Heilungschancen, hätte die Autorin hingegen verzichten können.

Alles, aber auch wirklich alles, hängt die Wissenschaftsjournalistin an Fallbeispielen auf. Diese Einzelschicksale sind zweifellos interessant, machen die Schilderungen nachvollziehbar und lebendig. Allerdings werden sie in ihrer Häufung irgendwann zu viel – vor allem, da die Autorin mit ihrem lyrischen Erzählstil noch einen draufsetzt. Jedes Wohnzimmer, jedes Aussehen eines Interviewpartners beschreibt sie bis ins letzte Detail. Solches "Menscheln" ist übertrieben, auch in einem populärwissenschaftlichen Buch.

Unterm Strich besticht das Werk, trotz mancher Schwächen, als interessanter, gut recherchierter Beitrag zu einem Gebiet, das von esoterisch angehauchten Veröffentlichungen nur so überschwemmt wird. Es wäre schade, wenn es in diesem Sumpf einfach unterginge.

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