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Musst du lesen Buch!

Bei manchen Entwicklungen muss selbst der toleranteste Freund des Sprachwandels schlucken. Beim "Kurzdeutsch" beispielsweise. Kennen Sie nicht? Musst du lesen Buch oder gehen Berlin! Vor allem dort nämlich entwickelt sich die früher als Türken- oder Gastarbeiterdeutsch bezeichnete Ausdrucksweise zum Massenphänomen. Ihr Hauptmerkmal ist das Weglassen von Artikeln und Präpositionen: "Ich gehe zum Fußball" wird zu "Ich gehe Fußball", "Er hat ein cooles Smartphone" wird zu "Er hat cooles Smartphone". Darüber hinaus umfasst das "Paket" Kurzdeutsch einen melodiösen Betonungsstil und eine besondere Bekundung gegenseitigen Respekts, die rituelle Beschimpfung: "Du Missgeburt, selbst deine Mutter findet dich hässlich!", "Du Opfer, wenn du Wasser springst, gehst du unter, weil dich nicht mal Wasser halten will".

So wie die beiden Kumpels Max und Marcel aus der achten Klasse eines Berliner Gymnasiums, die sich solche Freundlichkeiten erweisen, reden viele Jugendliche in der Hauptstadt – und auch immer mehr junge Erwachsene, wie Diana Marossek schreibt. Die Soziolinguistin hat ausgiebige Feldforschungen darüber angestellt: Insgesamt 30 Berliner Schulen aller Schulformen hat sie besucht und, als Referendarin getarnt, die jugendlichen Sprecher belauscht. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit belegte sie dann, dass sich Kurzdeutsch fast überall dingfest machen lässt und in nahezu allen Kreisen benutzt wird, also auch von Menschen aus rein deutschsprachigen Elternhäusern.

Sprachgebrauch als Botschaft

Können die denn alle kein Deutsch? Marosseks Beobachtung: Während Kurzdeutsch an Berliner Haupt- und Realschulen oft zur Standardausdrucksweise gehört, greifen Gymnasiasten eher bei bestimmten Gelegenheiten zu diesem Stil, beispielsweise um ihren Status in der Gruppe zu unterstreichen. Im Grunde gehe es nicht darum, ob jemand die Regeln des "normalen" Hochdeutschs beherrscht oder nicht, so die Autorin. Kurzdeutsch erfülle einen bestimmten Zweck: Es liefere Heranwachsenden ein Identifikationsmerkmal und zeichne das Bild vom durchsetzungsstarken Underdog aus der rechtlichen Grauzone, wie es beispielsweise in der Hip-Hop-Szene zelebriert wird. Auch die Medien ("Was guckst du?", "Fack ju Göhte") haben intensiv an diesen Assoziationen mitgewirkt, und das seit mehr als einem Jahrzehnt.

So wurde die "Pidginsprache" der Einwanderer und Gastarbeiter, mit ihren charakteristischen Verkürzungen und Vereinfachungen, zur verbreiteten Jugendsprache. Und nun könnte ihre Karriere immer weitergehen. Marossek spekuliert, Kurzdeutsch könne über kurz oder lang zum Berliner Stadtdialekt werden. Oder entsteht hier gar das künftige Standarddeutsch? In festen Redewendungen ("Ich hab Rücken") finden sich bereits solche Tendenzen. Die Linguistin liefert auch einige Kurzdeutschdialoge, die sie bei Erwachsenen gehört hat – doch hier fehlt ihr eine vergleichbar solide Datenbasis. Ihre Belege, dass sich kurzdeutsche Elemente tatsächlich nennenswert außerhalb der Schulen verbreiten, bleiben anekdotisch. Da hätte das Buch durchaus ein bisschen mehr Wissenschaft verkraftet. Überhaupt fragt man sich, warum sie dem Leser offenbar nur die allernötigsten linguistischen Details zumuten will. Und warum dieser kindliche Stil?

Dabei ist Marosseks Untersuchung doch so viel aufschlussreicher als jede Jugendwortwahl oder die vielen Versuche, den Zustand der deutschen Gegenwartssprache mal wieder allein aus dem Bauch heraus zu diagnostizieren. Zudem hat die Autorin ihre Erkenntnisse höchst unterhaltsam zusammengetragen. Dank der vielen kuriosen Beispieldialoge ist das Buch sehr amüsant und liest sich streckenweise mit wohligem Schauer.

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