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Finanzen, Kryptografie und Wetter

Unser ganzes Leben ist von Mathematik durchdrungen  – und keiner merkt es. Das GPS-Handy weiß jederzeit genau, wo ich bin; Amazon schlägt mir Waren zum Kauf vor, für die ich durchaus Interesse aufbringe; meine Bank kommt irgendwie zu der Einschätzung, ich sei kreditwürdig; und die Wettervorhersage ist um Klassen besser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Und das alles, ohne dass ich mit einer Definition, einem Beweis oder auch nur einer klitzekleinen Differenzialgleichung behelligt würde.

Professionelle Mathematiker haben allen Anlass, diesen Zustand zu beklagen, weil ihnen dadurch der verdiente Ruhm entgeht. Aber nicht nur sie: Auch dem Normalmenschen bleibt verborgen, welch nützliche Dinge die Mathematik für ihn tut, und zwar ohne dass er das irgendwie kontrollieren könnte.

Bunte Mischung

Also machten sich Fachvertreter auf, diesem beklagenswerten Zustand abzuhelfen. Der 7. Europäische Mathematikerkongress, der im vergangenen Jahr in Berlin stattfand, bot ihnen dafür einen willkommenen Anlass. Der vorliegende Band wurde jedem Teilnehmer zusammen mit den Unterlagen ausgehändigt und besteht aus einer thematisch wie formal sehr bunten Mischung von 15 Beiträgen. Sie decken tatsächlich ein weites Feld gesellschaftlich relevanter Anwendungen von Mathematik ab.

Helmut Neunzert, Gründer und langjähriger Chef des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) in Kaiserslautern, beschreibt an mehreren Beispielen aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz, wie sehr sich die Tätigkeit eines Industriemathematikers von der seiner akademischen Kollegen unterscheidet. Man studiert nicht eine Methode und sucht Probleme, auf die man sie anwenden kann, sondern eben umgekehrt. Und ganz wichtig: Man liefere dem Auftraggeber nicht einfach eine fertige Lösung des Problems, sondern lasse ihm wenigstens einen Knopf, an dem er selbst drehen kann. Sonst packt ihn die Angst vor dem Kontrollverlust.

Christiane Rousseau von der Université de Montréal, bekannt geworden als treibende Kraft hinter der Aktion "Mathematics of Planet Earth" (2013), ist sogar so uneigennützig, gar nichts von ihrer eigenen Arbeit zu erzählen. Vielmehr gibt sie eine Einführung in "Geometrien der Natur", unter denen die fraktale nur die prominenteste ist.

Gegen den Rat der Fachleute

Haben die Mathematiker die Finanzkrise von 2008 auf dem Gewissen? Nein, argumentiert Walter Schachermayer von der Universität Wien. Mathematiker haben zwar die Werkzeuge zur Berechnung finanzieller Risiken bereitgestellt, insbesondere die berühmt gewordene Formel von Black und Scholes; aber es waren die Finanzleute, die sie gegen die Warnungen der Mathematiker falsch angewendet haben.

Weitere Gebiete, zu denen die Mathematik Wesentliches beizutragen hat, werden ebenfalls gründlich besprochen, darunter demokratische Abstimmungssysteme, sichere Nachrichtenübermittlung durch Verschlüsselung sowie Wetter- und Klimaprognosen.

Gegen die Qualität der Beiträge ist nichts einzuwenden, im Gegenteil. Dennoch weckt das Gesamtwerk sehr gemischte Gefühle. Es versucht beide Zielgruppen, Professionelle wie Laien, gleichermaßen zu bedienen, und dieser Spagat kann nicht gelingen. Das fängt bei der Sprache an. Die überwiegende Mehrheit der Autoren ist deutscher Muttersprache, und etliche von ihnen hatten erkennbar mit dem Englischen zu kämpfen. Ihre Inhalte wären auf Deutsch wahrscheinlich eindrucksvoller herübergekommen; aber das kann man den Kollegen auf einem internationalen Kongress natürlich nicht zumuten.

Zwar enthalten die Artikel beileibe kein Übermaß an Formeln. Aber viele von ihnen folgen der fachüblichen Darstellungsform, die für Nichtmathematiker eher unbekömmlich ist. Zudem haben die Veranstalter gar nicht erst versucht, das Werk über den gewöhnlichen Buchhandel zu verbreiten; erhältlich ist es nur über die Website der European Mathematical Society (www.ems-ph.org). Den mathematisch interessierten Laien sei immerhin gesagt: Ja, es ist mühsam, dieses Buch zu verstehen. Aber die Anstrengung lohnt sich durchaus.

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