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Wie die Nahrung den Menschen machte

Als "Mikronährstoffe" bezeichnet man Nahrungsbestandteile, die wenig bis keine Energie liefern, aber trotzdem unverzichtbar sind, weil der Körper ohne sie nicht funktioniert. Vitamine, Minerale und Spurenelemente gehören dazu. Wenn sie dauerhaft in der Nahrung fehlen, führt das zu chronischen Krankheiten bis hin zum Tod.

Ob ein Organismus gut oder schlecht mit Mikronährstoffen versorgt ist, wirkt sich auf seine reproduktive Fitness aus, auf seine Fähigkeit also, überlebens- und fortpflanzungsfähige Nachkommen hervorzubringen. Da liegt die Frage nahe: Wie beeinflusst das Angebot an solchen Stoffen die Evolution von Lebewesen? Antworten darauf gibt der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski in diesem Werk, das der Verlag als Lehrbuch ausweist. Dabei stützt sich der Autor auf zahlreiche Forschungsarbeiten älteren und jüngeren Datums.

Gehaltvolle Krabbeltiere

Biesalski nimmt die Evolution des Menschen in den Blick, angefangen mit unseren sehr frühen Vorfahren: kleinen Säugetieren im Erdmittelalter, die vermutlich in Baumkronen von Regenwäldern lebten und Insekten fraßen. Vor einigen zehn Millionen Jahren erweiterten sie ihren Speiseplan um Früchte, Blätter und andere pflanzliche Nahrung, bis vor rund 45 Millionen Jahren aus ihnen die ersten Primaten hervorgingen. Der Autor listet den Nährstoffgehalt verschiedener Kerbtiere auf und erörtert, ob unsere Vorfahren ihren Bedarf durch Insektenverzehr decken konnten.

Interessant sind seine Überlegungen zum trichromatischen Sehen, dem visuellen Wahrnehmen mit drei Fotopigmenten. Es ist bei unseren fernen Ahnen aus dem dichromatischen Sehen (mit zwei Fotopigmenten) hervorgegangen. Laut dem Ernährungsmediziner könnte es sich evolutionär unter anderem deshalb durchgesetzt haben, weil es sich als nützlich bei der Futtersuche erwies: Trichromaten erkennen reife Früchte deutlich besser als Dichromaten.

Ausführlich befasst sich Biesalski mit Lebensraum und Ernährung verschiedener Hominini, etwa dem Sahelanthropus tchadensis, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren lebte. Fossilfunde deuten darauf hin, dass dieser sich in ufernahen Wäldern aufhielt, welche von Savanne und Buschland umgeben waren. Dort hatte er Zugriff auf Früchte, Wasserpflanzen, Kleintiere einschließlich Insekten, Fische und größere Tiere. Die Leser erfahren, wie man aus Fossilien herauslesen kann, was bei den Hominini auf dem Speiseplan stand. So sagt die Isotopenzusammensetzung des Zahnschmelzes etwas darüber aus, ob der Besitzer des Zahns eher C3-Pflanzen verzehrte, die in Wäldern zu finden sind, oder eher C4-Pflanzen, die in der Savanne gedeihen.

Aufrecht dank Fischfang

Bemerkenswert ist die vom Autor präsentierte These, das aufrechte Stehen und Gehen sei eine Anpassung an aquatische Nahrung gewesen. Fische fangen konnten unsere Vorfahren wohl am besten, indem sie ruhig im Wasser standen und mit den freien Händen zugriffen oder -stießen, sobald sich die Beute näherte. Das erforderte ausdauerndes Verharren auf zwei Beinen. Individuen mit dieser Fähigkeit dürften einen Selektionsvorteil gehabt haben, denn Fisch ist quantitativ und qualitativ ein hochwertiges Nahrungsmittel, gerade was den Gehalt an Mikronährstoffen anbelangt.

Das Buch enthält viele Tabellen mit Nährstoffgehalten von Tieren und Pflanzen, die auf dem Speiseplan der frühen Hominini standen. Daraus geht hervor: Unsere Ahnen lebten zumeist nicht im Vitamin- und Mineralstoffparadies. Im Gegenteil, sie litten wohl häufig unter Mangelernährung und gingen manchmal auch daran zu Grunde. So starb der Paranthropus bosei, der "Nussknacker-Mensch", vermutlich deshalb aus, weil er sich zu sehr auf pflanzliche Kost spezialisiert hatte. Mit zunehmender Trockenheit in seinem Lebensraum änderte sich das Angebot etwa an Früchten, und es fiel ihm offenbar immer schwerer, seinen Bedarf an Mikronährstoffen zu decken.

Den Körperbau der Pygmäen interpretiert Biesalski als Anpassung an eine chronische Mangelernährung, ebenso wie die Verzwergung des Homo floresiensis. Den massigen Neandertaler mit seinem großen Gehirn dagegen betrachtet der Autor als mögliche Adaption an ein Nährstoff-Überangebot.

Inhaltlich ist das Buch interessant und aufschlussreich, die eng gesetzten Textwüsten trüben allerdings die Lesefreude. Für optische Auflockerung sorgen Tabellen, Texteinschübe und seltene Grafiken. Ansprechende Bilder fehlen. Eine luftigere und übersichtlichere Gestaltung wäre möglich gewesen, hätte man die zahlreichen Redundanzen eingekürzt. Stellenweise häufen sich Fehler in Satzbau und Interpunktion.

"Mikronährstoffe als Motor der Evolution" kann fachlich interessierten Lesern als gehaltvolles Nachschlagewerk und Recherchehilfe dienen. Man sollte sich jedoch auf mitunter zähe Lektüre einstellen.

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