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Ohne N nix los

Alle Elemente des Periodensystems sind wichtig. Wer also in einem Buchtitel verkündet, "ein Element schreibt Weltgeschichte", der hängt die Erwartungen sehr hoch – schließlich trifft das auf einige Stoffe zu. Der Chemienobelpreisträger Gerhard Ertl und der Chemiker und Philosoph Jens Soentgen formulieren es im Hinblick auf Stickstoff. Und halten ihr Versprechen: Wer das Werk liest, erfährt wirklich ein Stück Weltgeschichte.

Das Werk bietet einen originellen Mix aus Historie, Naturwissenschaft und Alltagsbeispielen, geschrieben von rund zwanzig Autorinnen und Autoren. Dabei erfahren die Leser unter anderem von Nachtmärkten in Hongkong, auf denen diverse Stickstoffverbindungen zu erschnuppern sind. Auch liest man, wie Ökologen durch algenbewucherte Tümpel waten, um die Folgen eines gestörten Stickstoffkreislaufs zu erforschen. Zudem führt die Lektüre auf blutige Pfade in die Vergangenheit, denn Stickstoff ist in Form von Salpeter ein wichtiger Bestandteil von Schwarzpulver.

In gut bemessenen Portionen

Nicht alle Leser werden das durchweg spannend finden und sich über Exkurse in die Welt der Munition gleichermaßen freuen wie über chemische Doppel- und Dreifachbindungen. Doch wer neu- und wissbegierig ist, gern über den Tellerrand schaut und sich für verschiedene Themen begeistern lässt, kommt in dem Werk auf seine Kosten. Als hilfreich erweist sich die Untergliederung des Buchs in einzelne, gut verdauliche und in sich geschlossene Kapitel. So kann man es zwischendrin auch mal länger zur Seite legen und verpasst trotzdem nicht den Anschluss. Wer den Band am Stück liest, dem fallen einige Wiederholungen auf.

Das Buch richtet sich vor allem an interessierte Laien und versammelt hierfür Geschichten aus dem wirklichen Leben statt Lehrbuchtexte. Und zwar immer mit der Botschaft: Unterschätzt den Stickstoff nicht, er verändert die Welt! Ohne ihn gäbe es nicht so viele Menschen auf der Welt, wäre der Erste Weltkrieg schneller vorbei gewesen, wäre Kaffee kein Kaffee.

Knappheit inmitten des Überflusses

Manche(r) mag sich darüber wundern, dass früher Mangel an einem Stoff bestand, der fast 80 Prozent unserer Luft ausmacht. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Stickstoff tatsächlich knapp, denn so, wie er in der Atmosphäre vorkommt, nutzt er uns und den Pflanzen nichts. Erst Bakterien und Blitze (sic!) müssen ihn umwandeln, um ihn bioverfügbar zu machen. Ihre Aktivität reichte im Industriezeitalter jedoch immer weniger aus, um all die Nahrungspflanzen zu düngen, die man für die wachsende Weltbevölkerung brauchte. Ohne das Haber-Bosch-Verfahren, das die Produktion von Kunstdünger ermöglicht, wäre die damals befürchtete "Ernährungskrise" wahrgeworden.

Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Autoren fasziniert und begeistert vom Stickstoff und den vielen Verbindungen, in denen er auftreten kann. Sie machen unter anderem auf die Verdienste von Fritz Haber (1868-1934) aufmerksam, den "Vater" des Haber-Bosch-Verfahrens, ohne zu verschweigen, dass dieser auch den Gaskrieg erfand. Auf das Haber-Bosch-Verfahren geht Ertl näher ein, da es jene Arbeiten streift, für die er 2007 den Nobelpreis erhielt: die nämlich über chemische Reaktionen an Oberflächen.

Trotz aller wissenschaftlichen Begeisterung verfallen die Autoren nicht in Schwärmerei – zum Glück. Stickstoff ist nämlich nicht nur Lösung, sondern auch Problem. Setzt man ihn übermäßig intensiv ein, wie es heute vielfach geschieht, werden Felder überdüngt, versauern Böden, sammeln sich Stickoxide in der Luft. Und so überlebenswichtig das Haber-Bosch-Verfahren ist: Es ermöglicht auch, Munition in riesigen Mengen herzustellen, und nährte damit etwa die mörderischen Trommelfeuer der Artillerie im Ersten Weltkrieg.

Nur kurz richten die Autoren ihren Blick in die Zukunft und fragen, wie neue Düngemittel aussehen könnten und sich der exzessive Gebrauch von Kunstdünger eindämmen lässt. Die eine richtige Antwort darauf gibt es nicht. Doch überhaupt darüber nachzudenken, ist nur möglich, wenn man sich des Problems bewusst ist und es ansatzweise versteht. Die Voraussetzungen dafür schafft dieses Buch.

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