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Erstaunliches Oxytocin

Es gibt kaum etwas, was Oxytocin nicht kann – den Eindruck bekommt man zumindest, wenn man das Buch der schwedischen Medizinerin Kerstin Uvnäs Moberg liest. Das "Kuschelhormon" fördert nicht nur die Mutter-Kind-Beziehung und spielt eine wesentliche Rolle bei Geburt und Stillen. Es übt auch auf Schmerzempfinden, Blutdruck, Angst, Verdauung und Genesung gesundheitlich positive Wirkungen aus.

Die Autorin, die mittlerweile als Professorin für Physiologie an der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften in Uppsala wirkt, könnte man als Pionierin der modernen Oxytocinforschung bezeichnen. 1996 unterbreitete sie als Erste die These, die körpereigene Substanz sei möglicherweise mehr als nur ein "Mütterlichkeitshormon". Und hatte recht damit.

Im vorliegenden allgemeinverständlichen Werk erklärt Moberg, wie Oxytocin unser Verhalten und unsere Gefühle beeinflusst. Dabei fokussiert sie darauf, wie bedeutsam Beziehungen und Berührungen sind. Weil insbesondere letztere in der modernen Welt immer kürzer kommen, werde unser "Hauthunger" nicht mehr gestillt, was das Risiko für Übergewicht und Depressionen steigere.

Von Beginn an wichtig

Zunächst thematisiert die Autorin unser "Säugetiererbe" und erläutert die überlebenswichtige Funktion von Bindungen. Ohne Mutter-Kind-Beziehung und die damit einhergehende mütterliche Fürsorge sind Jungtiere oft dem Tod geweiht. Moberg erklärt, was unser Verhalten steuert, wie unser Nervensystem aufgebaut ist und funktioniert und – ganz wichtig für die Wirkung des Oxytocins – wie es mit der Haut vernetzt ist. Berührungen stimulieren demnach die Ausschüttung des Hormons und wirken beruhigend. Besonders während der Kindheit ist Hautkontakt extrem wichtig für die Entwicklung.

Die Herausgeber der deutschen Ausgabe, zwei Psychotherapeuten, steuern hier ein interessantes Kapitel zur Körperkontaktstörung bei, einer Beeinträchtigung, die Menschen körperliche Berührungen als unangenehm empfinden lässt. Die Betroffenen meiden physischen Kontakt zu Anderen. Da dies besonders bei Eltern von Säuglingen fatal ist, raten die Herausgeber dazu, die Störung mit geeigneten Maßnahmen zu behandeln, welche sie mit Verweis auf ihr eigenes Buch leider nur kurz vorstellen.

Oxytocin beeinflusst nicht nur Mutter-Kind-, sondern auch andere Beziehungen, etwa unter Liebespartnern, Freunden, Gruppen, aber auch zu Haustieren. So haben Hundehalter vermutlich wegen der Wirkung des Hormons einen durchschnittlich niedrigeren Blutdruck und zeigen weniger Stresssymptome.

Mehr als nur "Kuschelhormon"

Die Wirkweise des Botenstoffs und seinen Transport im Körper veranschaulicht Moberg unter anderem in Illustrationen. Oxytocin ist demnach nicht nur als Hormon, sondern auch als Neurotransmitter aktiv und existiert in zwei Formen, die unterschiedliche Funktionen ausüben. Die eine beruhigt und wird beispielsweise während eines Orgasmus ausgeschüttet. Die andere stimuliert und initiiert Presswehen bei Geburten. Bemerkenswerterweise wirkt Oxytocin sogar durch die Luft: Ratten mit einem hohen Spiegel des Hormons sondern Pheromone ab, die den Oxytocinspiegel anderer Tiere erhöhen und diese damit ruhiger machen – ganz ohne körperliche Berührung.

Nichtsdestoweniger setzt sich die Autorin auch kritisch mit der Substanz und ihren physiologischen Wirkungen auseinander. Enge Bindungen könnten nicht nur positive Folgen haben, sondern ebenso zu blindem Vertrauen und damit Manipulierbarkeit führen. Zudem könnten Verlassenheitsgefühle und Argwohn entstehen, sobald der Partner abwesend sei.

Ist physische Nähe nicht zu bekommen, lässt sie sich ein Stück weit durch Nahrungszufuhr ersetzen, wie die Autorin schreibt. Dabei spielt der Vagusnerv eine wesentliche Rolle, der Gehirn und Magen-Darm-Trakt verbindet. Über ihn gelangen gastrointestinale Hormone, die bei der Verdauung freiwerden, ins Gehirn und sorgen dort für die Ausschüttung von Oxytocin. Umgekehrt führen Berührungen und die damit einhergehende Oxytocinausschüttung über den Vagusnerv zur Sekretion verdauungsfördernder Hormone, was die Nahrungsverwertung fördert. Demnach ist es nicht nur angenehm, sondern auch sinnvoll, nach einem ausgiebigen Mahl den Bauch gekrault zu bekommen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2009, weshalb es von Vorteil gewesen wäre, die deutsche Version zu aktualisieren. So vermutete Moberg bereits damals, durch Oxytocin vermittelte Gemeinschaftsgefühle in Gruppen könnten dazu führen, sich von anderen Gruppen abzugrenzen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass auf diesem Weg mitunter Neid und defensive Aggressionen entstehen. Ab und zu fordert die Autorin die Geduld ihrer Leser, wenn sie einen bestimmten Aspekt lediglich anreißt und ihn erst später oder gar nicht erläutert. Dennoch lässt sich das Buch allen empfehlen, die mehr über die vielseitigen Effekte des Oxytocins erfahren möchten.

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