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Zwischen Technik und Liebe zur Weisheit

"Schaffe, nit schwätze!" Solche Worte hat Technikphilosoph Klaus Kornwachs oft gehört, meist von älteren Ingenieuren. Da Philosophen abstrakter und verallgemeinernder vorgehen als Technikfachleute, ist ihre Sichtweise für letztere oft schwer nachvollziehbar. Beim Lesen von Kornwachs’ Buch wird deutlich, dass die daraus resultierende Abwehrhaltung gefährlich sein kann.

Ziel des Autors ist es, Hürden zwischen Technik und Philosophie zu überwinden. Ein Ingenieur, schreibt er, solle sich nicht damit zufrieden geben, dass seine Konstruktion funktioniert. Zwar kamen die Chemieunfälle im italienischen Seveso und im indischen Bhopal oberflächlich betrachtet "nur" durch technische Probleme und eine Verkettung unglücklicher Umstände zustande, ebenso die Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Doch mit Hilfe der Philosophie lasse sich erkennen, dass das Problem dahinter größer sei.

Zu kompliziert ist halb kaputt

Philosophische Denkansätze könnten Katastrophen natürlich nicht gänzlich verhindern, macht Kornwachs klar. Sie könnten jedoch helfen, diese weniger wahrscheinlich zu machen. Der Autor geht etwa auf die Arbeiten des amerikanischen Organisationstheoretikers Charles Perrow ein. Dieser postuliert einen Zusammenhang zwischen Komplexität und Störanfälligkeit eines Systems: In komplexen Systemen seien katastrophale Ereignisverkettungen nicht gänzlich vermeidbar. Denn solche Systeme ließen sich aus formal-logischen Gründen nicht mehr vollständig beschreiben, was unter anderem eine realistische Risikobetrachtung verhindere, und veränderten zudem im Lauf der Zeit ihre Struktur. Daher ließen sie sich nur eingeschränkt verstehen und beherrschen. Laut diesen Überlegungen kann man unbeherrschbaren Fehlfunktionen entgegenwirken, indem man die Teilsysteme eines hochkomplexen Systems weitgehend entkoppelt. "Small is beautiful", bringt es Kornwachs auf den Punkt.

Um die Kluft zwischen Philosophen und Ingenieuren zu überbrücken, macht der Autor abstrakte philosophische Theorien mit anschaulichen Beispielen und Abbildungen verständlich. Er regt seine Leser zum Nachdenken an, indem er ihnen Aufgaben stellt, beispielsweise zur Wissenschaftstheorie. So wirft er die Frage auf, ob die allseits bekannte Regel "Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung" eine Definition für Kraft, ein Naturgesetz oder eine Messvorschrift für die Beschleunigung darstellt.

Der Autor erörtert unter anderem, wie Menschen zu Erkenntnissen kommen. Dabei stellt er verschiedene Theorien vor. Platon (um 428-348 v. Chr.) beispielsweise war als Schöpfer der Ideenlehre davon überzeugt, dass man nichts erfinden, sondern alles nur entdecken könne. Ihm zufolge existieren Ideen als eigenständige Dinge, als unveränderliche metaphysische Realitäten. Kornwachs lehnt diese Sichtweise ab und verweist dabei auf das Prinzip des Ockham’schen Rasiermessers. Es gebietet, von allen möglichen Erklärungen eines Sachverhalts die einfachste zu bevorzugen. Warum soll man also vom Menschen unabhängige Ideen annehmen, wenn die Annahme, es handle sich um menschliche Erfindungen, viel weniger Probleme aufwirft?

Wer ist schuld?

Ein wichtiger Aspekt im Verhältnis zwischen Ingenieurwissenschaft und Philosophie ist die Verantwortlichkeit, wie Kornwachs erklärt. Der Architekt, der Bauingenieur und der Bauherr: Alle drei müssen dafür geradestehen, dass ein Bauwerk nicht zusammenbricht. Das klingt zunächst simpel. Doch rechtlich gesehen ist es komplizierter. Geschieht ein Unglück und kommt es zur Gerichtsverhandlung, wird nach verschiedenen Kriterien differenziert. In Strafprozessen geht es um Fahrlässigkeit und den Vorwurf, Regeln missachtet zu haben. In Zivilprozessen dagegen geht es um Haftungsfragen und Schadensersatz.

Der Autor legt dar, wie diese Unterscheidung Fragen der Ethik berührt. So könne man Rollenverantwortung und moralische Verantwortung voneinander abgrenzen. Erstere ergebe sich aus der professionell oder situativ gestellten Aufgabe, letztere resultiere aus der Prüfung einer Handlung durch das Gewissen oder die Moral. Es sei ratsam, schreibt der Autor, die moralische Verantwortung über die Rollenverantwortung zu stellen. So ließe sich ein Missbrauch der Ingenieurskunst, etwa zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen, vielfach verhindern. Doch auch hier sei Komplexität ein entscheidendes Problem: In vielschichtigen sozialen Gefügen ist oft schwer zu definieren, wer wofür verantwortlich ist, beziehungsweise Entscheidungsträger können sich ihrer Verantwortung leicht entziehen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das jahrelange Gezerre um den Berliner Flughafen BER.

"Philosophie für Ingenieure" ist ein empfehlenswertes Buch, das philosophische Lösungsstrategien für praktische Probleme bereitstellt. Es eignet sich für alle, die mit Technik zu tun haben oder an ihr interessiert sind.

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