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Ewige Wahrheiten gibt es nicht

Ein Physiker stellt naturwissenschaftliche Außenseiter-Hypothesen vor und geht dabei weit über sein Fachgebiet hinaus. Seine Ansätze sind aber solide begründet und oft diskussionswürdig.

Auf den ersten Blick ist das ein unmögliches Buch. Wie kann ein Einzelner es wagen, zu praktisch allen Fachgebieten – von der Geophysik bis zur Kosmologie, von der Biologie bis zur Interpretation der Quantentheorie – eigene Ideen zu präsentieren, die dem naturwissenschaftlichen Mainstream widersprechen? Die Ära der Universalgelehrten vom Schlag Leonardo da Vincis (1452 – 1519) ist doch längst Geschichte. Moderne Naturforschung wird von hochspezialisierten Teams betrieben, die oft nicht einmal die Arbeiten von Kollegen innerhalb ihres engeren Fachbereichs beurteilen können. Also liegt der simple Schluss nahe: Kundt spinnt.

Bei näherer Betrachtung erweist sich das Urteil aber als vorschnell. Wer sich auf einzelne Kapitel einlässt, begegnet einer naturwissenschaftlich begründeten Argumentation, welche die jeweils vorherrschende Lehrmeinung in Zweifel zieht und alternative Erklärungen vorstellt. In keinem einzigen Fall muten Kundts Überlegungen pseudowissenschaftlich an; allerdings beruft er sich oft auf Arbeiten Anderer, die heute wenig Beachtung finden.

Gekonnt quergeschossen

Somit ist Wolfgang Kundt der interessante Fall eines ernstzunehmenden Forschers, der als – mittlerweile emeritierter – Physikprofessor der Universität Bonn zahlreiche Fachpublikationen im Bereich Astrophysik vorweisen kann, es sich aber obendrein in den Kopf gesetzt hat, den wissenschaftlichen Mainstream vielfach in Frage zu stellen. Dabei assistiert ihm sein Fachkollege Ole Marggraf als Koautor. Wegen der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung der heutigen Wissenschaft ist es allerdings für einen Rezensenten praktisch unmöglich, jeden der 85 (!) Alternativvorschläge inhaltlich zu bewerten. Darum hier nur die folgenden drei Beispiele.

Mit einer Alternativtheorie zum so genannten Tunguska-Ereignis hat Kundt unter Geophysikern Zustimmung gefunden. Die große Explosion in Sibirien anno 1908 wird für gewöhnlich einem Asteroiden oder Kometen zugeschrieben. Kundt greift einen früheren Erklärungsversuch sowjetischer Wissenschaftler auf und begründet, warum es sich eher um ein tektonisches Ereignis gehandelt haben könnte, nämlich einen starken Erdgasausbruch.

Von Schwarzen Löchern hält Kundt offensichtlich nicht viel. Er bezweifelt, dass sich im Zentrum der Milchstraße und anderer Galaxien ein supermassereiches Schwarzes Loch aufhält. Stattdessen vermutet er dort bloß eine extrem heiße Materiescheibe, für deren Existenz er nicht weniger als 15 Gründe anführt. Dass diese tatsächlich die Existenz eines Schwarzen Lochs bündig widerlegen, davon bin ich nicht überzeugt, zumal der stärkste Grund für dessen Vorhandensein doch wohl bestehen bleibt: Eine derart hohe Masse auf so kleinem Raum kann keine ausgedehnte Scheibe sein.

Sogar das kosmologische Standardmodell zieht Kundt in Zweifel. Er hält den Urknall keineswegs für eine ausgemachte Sache und fragt, ob die kosmische Hintergrundstrahlung tatsächlich als dessen Nachglühen zu deuten sei. Damit freilich bewegt er sich weit außerhalb des Mainstreams und sympathisiert mit Minderheitenpositionen, die er mit dem Standardmodell auf eine Stufe stellt.

Zweifel müssen erlaubt sein

So spaziert dieser skeptische Einzelgänger an den Rändern des heutigen Weltbilds entlang und bleibt andächtig an dem einen oder anderen Denkmal stehen, das an fast vergessene Hypothesen gemahnt. Auf diese Weise erinnert er daran, dass auch ein etabliertes Weltmodell nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Ewige Wahrheiten gibt es in der Naturforschung nicht.

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