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Mangel als Quelle des Reichtums

Die tropischen Regenwälder liegen rund um den Äquator, sind heute aber auch in unseren Breiten allgegenwärtig. Wir konsumieren Tropenholz für Möbel, Parkett und Papier; Naturkautschuk für Autoreifen; Pflanzenstoffe für Medikamente; außerdem Nahrungsmittel wie Bananen und Zierpflanzen wie Bromelien und Orchideen. Plantagen auf ehemaligem Regenwaldboden versorgen uns mit Erzeugnissen, ohne die unser Lebensstandard nicht möglich wäre: Soja zum Mästen von Nutztieren, aber auch Palmöl, das zum einen in vielen Supermarktprodukten vorkommt (getarnt als "pflanzliche Öle") und zum anderen dem "Biokraftstoff" beigemengt ist, den wir an der Tankstelle zapfen können.

Regenwälder werden auch dort abgeholzt, wo Minen entstehen, um das Roherz Coltan zu fördern. Dieses wird benötigt, um Smartphones, Computer und Spielekonsolen herzustellen. Der Abbau von Coltan geht nicht nur zu Lasten von Regenwäldern, er findet obendrein häufig in Bürgerkriegsgebieten statt und heizt die dortigen Gewaltkonflikte an – was Werbespots, die Elektronikprodukte anpreisen, wohlweislich verschweigen.

Kurzum: Wir alle wirken an der Zerstörung des Regenwalds mit, oft ohne es zu wissen.

Mangelware Mineralien

Mit diesem Thema befasst sich das vorliegende Werk, das als Begleitbuch zu einer gleichnamigen Ausstellung im oberbayerischen Rosenheim erschien. Der großformatige Band ist ansprechend bebildert und enthält gut lesbare Beiträge von Ethnologen, Biologen, Zoologen, Ökologen, Forst- und Klimawissenschaftlern. Das 300-seitige Werk nimmt den Regenwald aus verschiedenen Perspektiven in den Blick: "Ökosystem", "Heimat", "Mythos und Abenteuer", "Warenlager", "Schlachtfeld" und "Patient".

Regenwaldböden sind, im Vergleich zu denen unserer heimischen Wälder, zwar äußerst arm an Nährstoffen wie Phosphor-, Stickstoff- oder Kalziumverbindungen. Doch genau dieser Mangel bewirkt eine einmalige Artenvielfalt der dortigen Biotope, weil er die Anpassung an kleinste Nischen erzwingt. Die meisten Nährstoffe sind in der Biomasse selbst, also den Tieren und Pflanzen, gespeichert. Stirbt ein Organismus, sorgt eine riesige Vielfalt von Pilzen und anderen Organismen dafür, dass die Bestandteile seines Körpers sehr schnell wieder in den Stoffkreislauf zurückkehren. Die ganzjährige Durchschnittstemperatur von 26 Grad Celsius und die 80-prozentige Luftfeuchtigkeit treiben solche Zersetzungsprozesse voran. Weitere Nährstoffe, etwa in Form von Staub, erreichen die Wälder über den Luftweg.

Das Buch zeigt auf, wie sich Pflanzen und Tiere an diese Bedingungen angepasst haben. Samenpflanzen beispielsweise haben enorm viele Strategien entwickelt, um ihre Samen zu verbreiten – etwa indem sie Menschenaffen oder Waldelefanten dafür "einspannen". Man erfährt von Riesengewächsen der Gattung Rafflesia, die parasitisch leben und die größten Blüten im Pflanzenreich bilden; von Stabschrecken, die braune Äste imitieren; und von Faltern, die das Aussehen von Wespen nachahmen, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Killifische wiederum überleben in kleinsten Pfützen, und Pacufische fressen mit Vorliebe Früchte, die ins Wasser fallen. Wer im Wettstreit der natürlichen Auslese keine nützlichen Anpassungen vorweisen kann, geht unter.

Pflanzenkundige Indigene

Die naturnah lebenden Regenwaldvölker haben in tausenden Jahren gelernt, in dem immergrünen Dickicht zu leben, wie aus dem Werk hervorgeht. Traditionelle Waldbewohner haben sich im Lauf der Zeit geradezu wissenschaftliche Kenntnisse angeeignet. Beispielsweise kennen sie Kräuter, mit denen sich Malariasymptome lindern lassen. Die Yanomami, amazonische Waldindianer, die in der Grenzregion zwischen Brasilien und Venezuela leben, bauen in ihren Gärten mehr als 100 verschiedene Pflanzenarten an. Diese dienen der Ernährung, dem Genuss, der Herstellung von Werkzeugen und Waffen, der Körperpflege, der Bekleidung und Heilzwecken. Die Ethnologin Gabriele Herzog-Schröder sieht in den Yanomami eine "ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft", die ohne großen Aufwand für ihren Lebensunterhalt sorgen könne. Nur zwei bis drei Stunden pro Tag seien die Waldindianer mit Gartenarbeit, Sammeln und Jagd beschäftigt.

"Regenwald" befasst sich hauptsächlich mit den großen tropischen Regenwaldgebieten Amazoniens, Borneos, Neuguineas und des Kongo; kleinere Gebiete klammert es aus. Dennoch ist das interdisziplinär ausgerichtete Buch lesenswert, denn es vermittelt einen ganzheitlichen Blick auf die Regenwaldproblematik. Unwissen, der Gegensatz von Arm und Reich und Profitgier treiben leider immer noch die Vernichtung dieser Wälder voran. Es geschieht zwar weit weg von Europa – doch die Folgen betreffen auch uns, denn die klimaregulierende Wirkung dieser Biotope ist global. Die Autoren und Herausgeber möchten ihre Leser deshalb dafür sensibilisieren, Verantwortung zu übernehmen und das eigene Konsumverhalten zu überdenken.

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