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Parade der Untiere

"Dieses Meer wird 'mar bocceano' genannt, und darin wurden große Fische gefunden, von denen die Seeleute denken, es seien kleine Inseln, [...] und wenn die Seemänner dann auf diesen Inseln an Land gehen, machen sie Feuer und verursachen so viel Hitze, dass der Fisch diese spürt und sich in Bewegung setzt, und dann haben sie keine Zeit, wieder an Bord zu gehen und sind verloren [...]."

Diese Beschriftung einer katalanischen Seekarte des 15. Jahrhunderts gibt einen verbreiteten Mythos wieder. Karten aus jener Zeit zeigen manchmal riesige Meerestiere, an oder auf denen Schiffe landen. Sie stellen auch monströse Seeschlangen dar und andere Kreaturen mit oft bizarrer Erscheinung. Aber wieso? Was wollten die Kartenzeichner dem Betrachter damit signalisieren?

Mit solchen Fragen befasst sich der Historiker Chet van Duzer. Er untersucht Seeungeheuer-Darstellungen auf europäischen Karten des Mittelalters und der Renaissance; im vorliegenden Band fasst er seine Ergebnisse zusammen. Van Duzer war Fellow an der US-Kongressbibliothek; zurzeit arbeitet er als Direktor eines universitären Forschungsprojekts, das sich der Analyse historischer Dokumente mittels multispektraler Bildgebung widmet. Seltsamerweise erfährt man das in der deutschen Ausgabe nicht, man muss es selbst herausfinden.

Heimsuchung der Ungetüme

Walangriff | Wale attackieren ein Schiff. Die Matrosen werfen Fässer und einer bläst Trompete, um die Ungeheuer zu verjagen. Detail der "Carta marina" von Olaus Magnus, Ausgabe von 1572.

Laut dem Autor tauchten Seeungeheuer ab dem 10. Jahrhundert auf mittelalterlichen Weltdarstellungen auf. Rund 600 Jahre lang zierten sie Karten und Globen, bis sie im 17. Jahrhundert wieder aus der Mode kamen. In dem üppig bebilderten Band präsentiert van Duzer viele Beispiele. Er hat gründlich recherchiert, wie an den zahlreichen Literaturverweisen im Buchanhang zu ersehen.

Unterhaltsame Geschichten bietet das nüchtern geschriebene Sachbuch kaum. Van Duzer stellt zahlreiche Kartografen vor und untersucht ihre Werke daraufhin, in welchem historischen Kontext sie stehen, welche Kreaturen sie zeigen, wer diese zeichnete, auf welche Quellen er sich dabei stützte, von wem er abgeschaut haben mag und so weiter. Das ist durchaus interessant, aber auch ziemlich speziell. Als Leser sollte man sich für Kartografie, Seefahrt und historische Weltbilder interessieren – und schon einmal von mappae mundi oder der Waldseemüller-Karte gehört haben.

Recht prägnant arbeitet der Autor heraus, was es mit den Monsterdarstellungen auf sich hat:

  • Sie dienten der Dekoration, sollten Kunden beeindrucken und den Verkauf der Karten fördern. Besonders wichtig war das im 16. Jahrhundert, in dem man sich allgemein für Wunder und Kuriositäten interessierte. Die Zeichner platzierten die Fabelwesen oft in großen Meeren, um ausgedehnte Leerflächen auf den Karten zu vermeiden.
  • Seeelefantenvogel | Ein Ungeheuer mit Vogelgesicht, das aus fünf Elefantenrüsseln Wasserdampf bläst. Aus: Gerhard Mercator, "Europae descriptio emendata", Duisburg 1572.
  • Sie verweisen auf berühmte Mythen und religiöse Schriften. So ist gelegentlich der Prophet Jona zu sehen, der von einem Seetier verschluckt wird, oder der biblische Leviathan, der die Welt umschlingt. Ein häufiges Motiv sind Sirenen: menschenähnliche Wesen, die schon in der griechischen Mythologie vorkommen.
  • Sie stehen bildhaft für die Eigenschaften "fremd" und "bedrohlich". Daher erscheinen sie auf den Karten oft in Gewässern, die fernab der damals bekannten Welt lagen: Im Indischen Ozean etwa oder um Amerika herum.
  • Sie entspringen der mittelalterlichen Auffassung, jedes Landtier müsse ein Gegenstück im Meer haben: Seeschweine, Seebären, Ziegenfische und so weiter.
  • Krakenkrebs | Ein Riesenkrebs? Ein Monsterhummer? Nein, der Zeichner wollte einen Kraken (polypus) darstellen. Immerhin, die Zahl der Extremitäten stimmt – in etwa. Detail der "Carta marina" des Olaus Magnus, Ausgabe von 1572.
  • Es sind schlecht getroffene Darstellungen von echten Tieren. Walrosse etwa erscheinen auf Renaissance-Karten als elefanten- oder krokodilähnliche Bestien, und Wale als unförmige Gestalten mit trompetenartigen Auswüchsen am Kopf. Viele Zeichner, die damals Meerestiere zu Papier brachten, haben diese offenbar nie selbst gesehen und mussten sich aufs Hörensagen verlassen.
  • Es gab wirtschaftliche Gründe, sie zu zeigen. So ist auf einer Nordeuropakarte des 16. Jahrhunderts eine fliegende Schildkröte zu sehen, wohl eine Art Logo des Kartenzeichners. Spätere Kartografen übernahmen das Wesen als "echtes" Untier in ihre Werke, nicht ahnend, dass sie damit Werbung für die Konkurrenz machten. Eine andere Karte zeigt auffällig viele, furchteinflößende Meeresungeheuer bei Norwegen – unter anderem vermutlich deshalb, um Fischer aus anderen Ländern davon abzuhalten, in den skandinavischen Gewässern auf Fang zu gehen.
Flugschildkröte | Diese fliegende Schildkröte erschien auf einer Karte, die 1558 "in Antwerpen von Arnold Nicolai im Zeichen der Schildkröte" veröffentlicht wurde. Vermutlich war sie eine Art Firmenlogo – was spätere Kartografen nicht davon abhielt, sie als "echtes Ungeheuer" in ihre eigenen Werke zu übernehmen.

Je mehr Untiere eine Karte präsentierte, schreibt van Duzer, umso teurer war sie, denn die Monster wurden wahrscheinlich von Spezialisten gezeichnet; darauf deuten verschiedene Indizien hin. Besonders fantasievoll (und absurd) fielen die Kreaturen aus, wenn ein wohlhabender Käufer viele davon bestellte und der Zeichner deshalb stärker als sonst gezwungen war, kreativ zu werden. Das, meint der Autor, beantworte auch eine weitere Frage: Warum nämlich die meisten mittelalterlichen Karten keine Untiere zeigen. "Wenn der Kunde, der die Karte in Auftrag gegeben hatte, nicht für Seeungeheuer bezahlte, dann erhielt er auch keine."

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