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Wie entstehen Vorher und Nachher?

Der ungeheure Erfolg von Stephen Hawkings "Eine kurze Geschichte der Zeit" (1988) beruhte darauf, dass das Buch faszinierende Fragen der modernen Naturerklärung in scheinbar verständlicher Weise ansprach. Hawking war als Koryphäe im Grenzbereich von Quantenphysik, allgemeiner Relativitätstheorie und Kosmologie ausgewiesen, und der lässige Plauderton seines Buchs erweckte den Eindruck, alle darin angesprochenen Probleme seien geklärt oder stünden kurz vor der endgültigen Lösung. Dagegen legt Arieh Ben-Naim, Professor für physikalische Chemie an der Hebräischen Universität von Jerusalem, im vorliegenden (englischsprachigen) Werk entschiedenen Protest ein.

Ben-Naims Spezialstrecke ist die Entropie, ein Maß für die Zahl der mikroskopischen Realisierungsmöglichkeiten eines bestimmten makroskopischen Zustands. Mit diesem zentralen Begriff der Thermodynamik berechnet ein physikalischer Chemiker routinemäßig das Systemverhalten bei Stoffumwandlungen. Der Autor, der dem Thema mehrere Bücher gewidmet hat, ist geradezu allergisch gegen abgehobene Spekulationen über die Entropie – etwa, dass sie auf geheimnisvolle Weise mit dem Zeitpfeil identisch sei, wie Hawking und andere behaupteten.

Reversibel und irreversibel

Zweifellos trifft der zweite Hauptsatz der Thermodynamik eine Aussage über zeitliche Entwicklungen. Ihm zufolge kann die Entropie in einem abgeschlossenen System niemals ab-, sondern nur zunehmen oder gleich bleiben. Aber das bedeute noch lange nicht, die Entropie definiere, was Zeit sei, oder sei gar mit ihr identisch, schreibt der Autor. Für solche Spekulationen hat er nur Spott übrig, was übrigens den Unterhaltungswert seines Buchs erhöht.

Den Entropiebegriff leitet Ben-Naim überraschenderweise aus dem von Claude Shannon (1916–2001) entwickelten Informationsmaß her, obwohl die Entropie als Teil der Wärmelehre dem Informationsbegriff der Nachrichtentechnik um viele Jahre vorausging. Ich vermute, mit dieser historischen Verdrehung möchte der Autor möglichst viel Abstand zwischen die physikalischen Begriffe Entropie und Zeitpfeil legen. Er behauptet immer wieder, die Entropie sei ein völlig zeitloser, nur von den Randbedingungen des Systems abhängiger Begriff; zeitliche Veränderung billigt er nur dem shannonschen Informationsmaß zu. Hier allerdings scheint er mir im Eifer der Polemik die Dinge auf den Kopf zu stellen.

Ein nicht ganz unwichtiges Minus

Der Zusammenhang von Entropie und Information ist nämlich mindestens so heikel wie der zwischen Entropie und Zeit. Shannons Formel für das Informationsmaß sieht zwar äußerlich der vom österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann (1844–1906) aufgestellten Entropieformel sehr ähnlich, besagt aber im gewissen Sinne das Gegenteil, was in dem (selten hervorgehobenen) Minuszeichen der Shannon-Formel zum Ausdruck kommt. Salopp gesagt ist Entropie ein Maß für die – mit der Zeit zunehmend wahrscheinliche – Unordnung eines Systems, während das Shannon-Maß den unwahrscheinlich geordneten und an sich zeitlosen Informationsgehalt einer Nachricht angibt.

Ben-Naim polemisiert heftig gegen jede Veranschaulichung von Entropie als "Unordnungparameter", die bei richtiger Verwendung aber durchaus zu rechtfertigen ist. Wie bei der Gleichsetzung von Entropie und Zeit hat er sicher Recht, jeden echten Missbrauch anzuprangern, aber ich meine: Vergleiche dürfen hinken.

Wie heißt es so schön am Ende des Films "Manche mögen’s heiß": Kein Mensch ist vollkommen. Weder Hawking noch Ben-Naim haben alle Rätsel gelöst, die sich um Zeit, Entropie und Information ranken. Aber als Warnung vor allzu beliebigen Gedankenspielen mit physikalischen Grundbegriffen erfüllt Ben-Naims Buch seinen Zweck – und Spaß macht die Lektüre obendrein.

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