Direkt zum Inhalt

Psyche und Literatur

Das Gefühl des Vertrauens stellt Neurophysiologen vor ein Rätsel: Es lässt sich nicht wie andere Emotionen im Gehirn beobachten. Daher ergründet Niels Birbaumer, Professor für Verhaltensneurobiologie und Medizinische Psychologie in Tübingen, das "schillernde Phänomen des Vertrauens" mit einem interdisziplinären Ansatz. Hilfe holt er sich dabei von Jürgen Wertheimer, der Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Tübingen lehrt.

Das gesamte Werk steht unter der Maxime, dass Vertrauen ein riskantes Gefühl sei – halb Rettungsanker, halb Falle. In insgesamt 22 Kapiteln erörtern die Autoren verschiedene Formen des Vertrauens, schließlich schenken wir unser Vertrauen nicht nur Freunden und Verwandten, sondern auch Institutionen, Ärzten, Parteien und Fremden.

Zunächst stellen Birbaumer und Wertheimer die bisherigen Versuche von Psychologen dar, die Ursachen des Vertrauens experimentell zu erforschen. Ein ganzes Kapitel widmen sie dem Dauerbrenner des Urvertrauens, das sie bereits in der ersten Zeile als Erfindung identifizieren. Auch dem Phänomen, dass Vertrauen durch Dominanz (sanft) erzwungen werden kann, räumen die Autoren viel Platz ein. Dafür interpretieren sie Mozarts "Così fan tutte" und Shakespeares "Der widerspenstigen Zähmung" ausführlich, aber amüsant im Hinblick auf das Vertrauen in Paarbeziehungen.

Uneleganter Spagat

Spätestens im vierten Kapitel, welches das Vertrauen in Freundschaften beleuchtet, entwickelt sich die Vermengung von Neurophysiologie und Literaturanalyse jedoch zu einem wenig eleganten Spagat. Es drängt sich der Eindruck auf, gerade einen Literaturschlüssel für den Deutschunterricht in der Oberstufe zu lesen: Nach Schillers "Die Bürgschaft", "Don Karlos" und "Kabale und Liebe" besprechen Birbaumer und Wertheimer auch Werke von Kleist, Kafka, Grass, Goethe, Thomas Mann, Tucholsky, Dostojewski und Homer.

In Kleist Schriften suchen die Autoren beispielsweise nach den biologischen Wurzeln des Vertrauens, verlieren sich in ethologischen Erklärungsansätzen und finden dann zur Psychologie und Neurophysiologie zurück. An anderen Stellen werden sie dann überraschend politisch, etwa, wenn sie (auf neurophysiologischer Ebene) fremdenfeindliche Bürger mit Drogensüchtigen vergleichen.

Angenehm ist, dass sich die Literaturergüsse – zum Teil seitenlange Shakespeare-Auszüge – überspringen lassen, da die Autoren jeweils eine knappe Zusammenfassung des Werks liefern. So kann man sich diese Passagen sparen und dennoch den Gedankengängen des Duos mühelos folgen.

Die Sprache des Werks ist pompös bis pathetisch und enthält zahlreiche verkürzende Stilfiguren und Wortspiele. Dies soll wohl eine Dramatik erzeugen, die dem Thema nicht ganz angemessen scheint. Wer ein nüchternes Sachbuch zur Hirnforschung erwartet, wird enttäuscht. Wer sich jedoch mit einer "psychologisierenden Analyse der Weltliteratur" anfreunden kann, wird gut unterhalten.

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Haustiere – Familienmitglieder auf vier Pfoten

Haustiere bereichern das Leben - doch machen sie auch glücklich? Wieso finden wir manche Tiere überhaupt so niedlich? Was geht im Kopf von Katzen vor? Und wie helfen wir unseren tierischen Mitbewohnern durch Hitzeperioden?

Gehirn&Geist – Die Macht der Erwartung

»Die Macht der Erwartung« zeigt, wie Psychotherapie besser wirkt. Außerdem im Heft: Frühe Beziehungen: Der Bindungstyp ist kein Schicksal; ADHS: So äußert sich die Störung bei Erwachsenen; Vibrotaktiler Sinn: Auch Gehörlose können Musik wahrnehmen; Rauchfrei: So klappt es am besten.

Gehirn&Geist – Das Unbewusste

»Gehirn&Geist« im Titelthema »Das Unbewusste« und fragt, ob sich bewusste und unbewusste geistige Prozesse einfach so trennen lassen. Außerdem im Heft: Vertrauen: Warum wir anderen meistens glauben; Alien-Hand-Syndrom; Kränkungen: Was uns so verletzlich macht; Neue Serie: Geheimnisse des Riechens.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.