Direkt zum Inhalt

Ist Genialität erlernbar?

Innerlich war ich ja schon immer davon überzeugt, dass doch ein kleines Genie in mir lebt – zumindest wenn ich meinen Schreibtisch so betrachte. Schließlich wissen wir ja alle: Ein Genie lebt im Chaos! Mein Mann behauptet aber seit Jahren das Gegenteil, denn seiner Ansicht nach beherrsche ich die Unordnung nicht, und ein chaotischer Schreibtisch sei eher untypisch für Genies. Nach seiner Definition, sind Genies Menschen, die (fast) alles wissen und können. Und die Begabung stecke ihnen in den Genen. Platon, Einstein, Mozart, Galilei, Beethoven oder Michelangelo gelten deshalb wohl zurecht als Genies.

Doch können Talent oder gar Genialität tatsächlich nur vererbt werden? Oder sind sie auch das Ergebnis von Umwelteinflüssen und persönlicher Entwicklung? Werner Siefer stellt sich diese Fragen nach "Nature or Nurture" in seinem Buch "Das Genie in mir. Warum Talent erlernbar ist". Und er beantwortet sie sehr erfreulich für jeden, der mehr aus sich machen möchte: Durch ausreichendes Üben und gute Motivation könne jeder das Genie in sich zum Leben erwecken: eine These, die der Autor mit den Biografien von Mozart, Darwin, Einstein oder Newton belegt – auch wenn er damit vielleicht die Sicht auf diese Genies bei manchen stört.

Talent sei erlernbar, meint der Autor und zitiert dazu aus vielen Studien, auf denen seine These basiert – etwa Anders Ericssons "zielgerichtetes Üben": Der erkennbare Erfolg liege in der Anzahl der Übungsstunden und in der Motivation, wie beispielsweise bei den afrikanischen Langstreckenläufer, die bereits in Kinderjahren stundenlang barfuß laufen würden und im Erwachsenenalter bei internationalen Meisterschaften Titel in Serie abräumen. Auch ein Ausnahmeschwimmer wie Michael Phleps behauptet, er tue nichts anderes außer Essen, Trinken, Schlafen – und Schwimmen.

Trainieren kann man aber natürlich nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Kopf – beispielsweise mit verschiedenen so genannten Memotechniken, denen Siefer in seinem Werk ebenfalls breiten Raum einräumt. Sie erklären unter anderem, warum sich bei Gedächtniswettbewerben seit Mitte der 1990er Jahre die Denkleistungen beständig verbessert haben. Der Schlüssel für diese Geistesleistungen liegt wiederum im Gehirn, wie der Autor anhand von Konzertpianisten beschreibt: Die Dicker ihrer Myelinschicht um die Nervenfasern – die so genannte "weiße Substanz" – hing eng mit der Zahl der Trainingseinheiten der Musiker zusammen. Je mehr sie übten, desto ausgeprägter war sie.

Übung kann also tatsächlich Meister machen, weshalb Siefer seine Leser im letzten Kapitel auffordert, selbst das Genie in sich zu wecken. Unter Überschriften wie "Talentkarte ist keine Genkarte", "Die Sinne schärfen sich" oder "Aller Anfang ist zauberhaft schwer" soll man sich intensiv mit seinem eigenen Können – oder auch Nicht-Können – auseinandersetzen: Für den Weg vom Anfänger zur geistigen Kapazität müssten demnach "nur" rund 10 000 Stunden gezieltes Üben investiert werden. Angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von mehr als 650 000 Stunden sollte das für uns eigentlich kein Problem sein – winkt am Ende doch vielleicht die Berufung in den Genie-Olymp.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.