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Am Nasenring der Vorurteile

Wenn es um Muslime geht, haben seriöse Journalisten und Religionswissenschaftler spätestens seit dem 11. September 2001 ein gemeinsames Problem: Sie treffen auf populäre Vorstellungen, wonach die Religion(en) angeblich alles politische Handeln erklärten. Niemand käme, wie der langjährige ZEIT-Korrespondent Michael Thumann einleitet, auf die absurde Idee, die abendländische Bankenkrise direkt aus Bibelversen herzuleiten. Geht es jedoch um Vorgänge in arabischen Ländern, müsse grundsätzlich der Koran herhalten.

Der wirtschaftliche und politische Aufstieg der demokratisch verfassten Türkei sowie vor allem die nicht-islamistischen Aufstände der tunesischen und ägyptischen, aber auch jemenitischen, bahrainischen und syrischen Massen gegen ihre jeweiligen Herrscher hat diese Klischees zuletzt immerhin stark erschüttert.

Wählt Thumann nun das andere Extrem und will uns erklären, religiöse Fragen spielten in der Politik der Türkei, des Maghreb und des Nahen und Mittleren Ostens keine Rolle? Nein, dem Journalisten gelingt etwas viel Besseres: Er kombiniert die Stärken journalistischer und wissenschaftlicher Analysen, um ein realistisches Bild der Vorgänge zu entwerfen, für die Religion ein bedeutender, aber eben nicht der allein entscheidende Faktor sind.

Thema für Thema führt uns Thumann zu interessanten Personen, die gängige Klischees in Frage stellen: Ägyptische Demonstranten, einfache Menschen, die in der Erfahrung spontaner, demokratischer Selbstorganisation Würde und Selbstvertrauen gewonnen haben. Muslimbrüder, die untereinander um die Frage ringen, ob und wie sie am demokratischen Prozess teilnehmen. Und ägyptische Intellektuelle, die sich westlich-aufgeklärt geben, aber von Politik immer fern gehalten haben, um die ihnen von der Diktatur gewährten Privilegien nicht zu gefährden. Arabische Frauenrechtlerinnen von Marokko bis Saudi-Arabien, die durchaus nicht einig sind, ob Fortschritte gegen oder durch den Islam zu erringen sind.

Angehörige der alten, türkischen Elite, die sich als säkular und westlich verstehen, aber zugleich die Demokratie ablehnen, weil sie den einfachen Menschen – darunter Kurden, Religiösen, Bauern – misstrauen. Kurden, die zwischen mehreren Ländern mit unterschiedlichsten Systemen pendeln. Und türkisch-islamische Geschäftsleute, die den neuen, boomenden Mittelstand des Landes begründen, aber auch den schleichenden Versuchungen der Macht zu erliegen beginnen.

Den saudi-arabischen Ex-Fanatiker, der erst im Gefängnis wagte, ihm vorher "verbotene" Bücher zu lesen. Und den sunnitischen Islamisten in Bahrain, der von den USA schwärmt, da diese den Iran und die schiitische Mehrheit im eigenen Land in Schach halte. Den libanesischen Drusenführer, der zwischen Sunniten, Christen und schiitischen Gruppen wie der Amal und Hisbollah mehrere Koalitionswechsel vollzogen hat, um sein Volk und seine Privilegien zu schützen. Die Moderatorin von al-Dschasira, die dem iranischen Botschafter das Wort entzieht, als dieser seine Redezeit überschreitet.

Thumann belässt es dabei nicht bei den Schilderungen dieser und zahlreicher weiterer, spannender Begegnungen – er ergänzt sie jeweils durch die Darstellung kundiger, politikwissenschaftlicher Analysen. Statt einer einheitlichen "grünen Masse" werden so die Gesellschaften in ihrer Vielschichtigkeit an Geschichten und Motiven erkennbar, die es unmöglich machen, die Menschen einfach in "gut" (z.B. prowestlich) und "böse" (z.B. religiös) einzuteilen. Wie das Christentum der Vergangenheit und Gegenwart auch wird der Islam sowohl für die Bekämpfung wie für die Begründung von Demokratie und Menschenrechten gebraucht. Und umgekehrt konnten säkular-nationalistische Eliten wie in Ägypten, Libyen und der Türkei ethnische Konflikte und den radikalen Islamismus nutzen und sogar schüren, um damit gegenüber dem Westen wiederum Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen und ihre Macht zu sichern.

An dieser Stelle gelingt Thumann zu zeigen, warum westliche Irrtümer über "die" Muslime gerade kein zu vernachlässigendes Randproblem darstellen: Sie werden sowohl von Machthabern wie Terroristen bereitwillig genutzt, um amerikanische und europäische Außenpolitik am Nasenring durch die außenpolitische Arena zu führen. Nicht nur in den afghanischen Bergen machen an Eliteuniversitäten ausgebildete westliche Strategen immer noch die Erfahrung, dass Jahrzehnte des Überlebens aus vermeintlich ungebildeten Dorfältesten, Feudalherren und Warlords schlaue und wechselbereite Akteure gemacht haben. Wer sich da auf simplen Modellen und Klischees ausruht, wurde und wird über den Tisch gezogen – mit oft furchtbaren Konsequenzen sowohl für den Westen wie auch für die vielen Menschen jener Regionen, denen ein Leben mit mehr Rechten, Freiheiten und Chancen zustünde.

Der Autor schafft es daher nicht nur, einen packend geschriebenen und überaus informativen Wegweiser durch den Dschungel aktueller Veränderungen vorzulegen. Sein Buch ist darüber hinaus eine eindringliche Beweisführung für den Schaden, den intellektuelle Bequemlichkeit gegenüber "dem Islam" im In- und Ausland anrichtet. Die arabischen Aufstände haben nicht nur Regime, sondern auch lieb gewordene Vorurteile erschüttert. Thumann zeigt, dass darin eine echte Chance liegt.

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