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Das ganz normale Böse

Ob Angriffe rechtsradikaler Schlägertrupps auf Ausländer oder Folter im Gefängnis der irakischen Stadt Abu Ghraib: Wann immer wir von einer Gräueltat erfahren, beruhigen wir uns damit, dass wir selbst so etwas natürlich nie tun würden. Auch die Tatsache, dass die Deutschen, darunter oft die eigenen Großeltern, vor 1945 mehrheitlich eine menschenverachtende Ideologie tolerierten, erscheint uns noch immer befremdlich.

Aber waren die folternden US-Soldaten im Irak tatsächlich nur einige schwarze Schafe – und die übrigen GIs solcher Taten nicht fähig? Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo bezweifelt das. Schon in den 1970er Jahren hat der heute emeritierte Professor der Stanford University in Kalifornien diese Überzeugung eindrucksvoll untermauert, indem er ein Experiment durchführte, das in die Annalen der Psychologie einging: Über eine Zeitungsannonce warb er junge Männer an und teilte sie per Zufall in Gefangene und Wachhabende ein. Nach kurzer Zeit eskalierte die Situation; die Wärter nutzten ihre Machtposition aus und wandten unnötig Gewalt an. Zimbardo musste das Rollenspiel abbrechen.

In seinem neuen Buch fasst der Psychologe Erkenntnisse aus zahlreichen Studien zusammen, um dem Bösen auf den Grund zu gehen. Das Stanford-Prison- Experiment beschreibt er zwar etwas zu ausführlich, bewertet seine eigene Rolle als Verantwortlicher für den außer Kontrolle geratenen Feldversuch aber durchaus kritisch. Vielleicht versteht er deshalb besser als andere, welche psychischen Mechanismen den Gewalttaten von Abu Ghraib zu Grunde liegen.

In einem weiteren Abschnitt analysiert er die damaligen Verhältnisse in dem irakischen Gefängnis: die permanente Bedrohung von außen, das Informationsbedürfnis des US-Militärs, die Langeweile in der Nachtschicht. Mittendrin junge GIs, die zu Hause liebevolle Eltern und vorbildliche Bürger waren: Zimbardo sieht sie als Opfer eines von Regierung und Militär geschaffenen Systems.

Ebenso ergreifend und ein Highlight des Buchs ist der zweite, leider recht kurze Teil über den Stand der sozialpsychologischen Forschung. Ursachen unterlassener Hilfeleistung, die Mentalität brasilianischer Folterknechte oder die Menschenrechtsverletzungen in Ruanda – all das ist für empfindsame Gemüter nur schwer zu ertragen, dokumentiert aber die Bedeutsamkeit des Problems.

Zimbardos neues Werk ist gewiss eine der gruseligsten Neuerscheinungen des Jahres. Es hat zwar Längen, beispielsweise wenn er gestützt auf Informationen von Menschenrechtsaktivisten ein Verfahren gegen Militärs und Politiker eröffnet oder wenn er sich im letzten Kapitel ausführlich über Heldentum ergeht. Trotzdem ist es ein notwendiges und wichtiges Buch und taugt zur Gewaltprävention vielleicht mehr als Geschichtsunterricht über Nazi-Deutschland, vor allem wegen seiner zentralen Aussage: dass der Druck einer Situation auch ganz normale Bürger dazu verleiten kann, gegen moralische Prinzipien zu verstoßen.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 9/2008

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