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Deutschland schafft Sarrazin ab

Ein ausgewiesener Verwaltungs- und Finanzspezialist schreibt ein Buch wie "Deutschland schafft sich ab", in dem er unter dem Vorwand, über Sozial-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik zu reden, latent eine schichtspezifische und ethnische Segregation propagiert. Warum tut er das, und warum findet er damit eine derart breite gesellschaftliche Zustimmung? Offensichtlich erregt die Problematik so manches Gemüt. Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von dem Medienwissenschaftler Michael Haller und dem Hamburger Redakteur Martin Niggeschmidt, legt nun das Messer an das Dickicht aus Halbwahrheiten und einseitiger Rhetorik, das in der Diskussion herangewachsen ist.

"In der Sache kann man Sarrazin nicht widerlegen." Diese Aussage wurde von verschiedenen Seiten in der medialen Debatte immer und immer wieder kolportiert – so lange, bis die Phrase als unumstößliches Faktum wahrgenommen wurde. Der Wissenschaftsjournalist Claus-Peter Sesin sowie die Soziologen Peter Weingart und Andreas Kemper eröffnen die Widerlegung, indem sie minutiös den Quellen und dem Kontext von Sarrazins Thesen nachspüren. Ihr Fazit: Sarrazin bedient sich einschlägiger angelsächsischer und deutscher Literatur, die in einer durch und durch tendenziös eugenischen Tradition steht.

Vorrangige Quelle ist ein hinlänglich bekanntes Zitierkartell rund um den rassistischen "Pioneer Fund" und die assoziierte Publikation "Mankind Quarterly", das unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft eine politisch motivierte Agenda unters Volk zu bringen sucht. Das bekannteste Beispiel ist das Buch "The Bell Curve" von Richard Herrnstein und Charles Murray (1994). Es trug zu dem geistigen Klima bei, das in den USA während der Präsidentschaft Bill Clintons zur – von Sarrazin gelobten – nahezu völligen Abschaffung der Sozialhilfe führte. Derlei erhellende Hintergrundinformationen sind im öffentlichen Diskurs bislang zu kurz gekommen.

Mit diesem Vorwissen im Hinterkopf erfährt man im zweiten Teil des Buchs unter anderem, was seriöse Wissenschaftler aller Disziplinen von der »Erblichkeit der Intelligenz« halten. Das ist eine der Kernthesen in "Deutschland schafft sich ab": Nicht nur die Intelligenz sei erblich, sondern auch einige daran gekoppelte Variablen, insbesondere sozialer Erfolg oder Misserfolg. Zunächst analysieren die Psychologen Leonie Knebel und Pit Marquardt das Messverfahren – den Intelligenztest – in seinen diversen Ausprägungen unter Verweis auf seine Entstehungsgeschichte. Seit den Anfängen, die auf Francis Galton und Alfred Binet zurückgehen, bilde die Intelligenzforschung bis heute das Rüstzeug von Ungleichwertigkeitstheorien. Diese haben gemeinhin das Ziel, gesellschaftliche Unterschiede zu biologisieren. Gilt eine solche Ungleichheit erst als naturgegeben, dann ist es nicht mehr schwer, sie für unveränderlich und sogar für "richtig" zu erklären. Methodische Mängel lassen die Anwender solcher Analysemethoden ebenso gern unter den Tisch fallen wie die Tatsache, dass eine allgemein gültige Definition von Intelligenz nicht existiert und somit nicht einmal Konsens herrscht, worüber man sich in diesem Zusammenhang unterhält.

Diethardt Tautz, Leiter des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie, attestiert Sarrazin und ideologisch Nahestehenden, dass sie von Genetik und Evolution "Grundsätzliches nicht verstanden haben". So gehöre die menschliche Spezies einerseits zu den genetisch homogensten dieser Erde, und keine ethnische Gruppe habe ein bestimmtes Gen exklusiv für sich. Darüber hinaus handle es sich bei der kognitiven Leistungsfähigkeit um eine polygenetische Eigenschaft, die im Gegensatz zu dem, was Sarrazin uns glauben machen wolle, nicht nach den mendelschen Gesetzen vererbt werde.

Auch bildungswissenschaftlich lässt sich die Behauptung, dass der kulturellreligiöse Hintergrund von Muslimen bildungsfeindlich sei, entkräften, wie der Soziologe Coskun Canan nachdrücklich und fundiert darlegt. Die Undurchlässigkeit des deutschen Bildungssystems etwa in Bezug auf Schichtzugehörigkeit treffe Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen, wobei die Religion so gut wie keine Rolle spiele. Vielmehr seien soziostrukturelle Einflüsse maßgeblich für den Bildungserfolg verantwortlich.

Im letzten Teil des Sammelbands suchen der Historiker Thomas Etzemüller, der Bildungswissenschaftler Fabian Kessel und der Soziologe Rainer Geißler nach nicht offensichtlichen Beweggründen Sarrazins. Eigentlich spreche hier durch den Autor eine bestimmte gesellschaftliche Klasse, die durch Ab- und Ausgrenzung von missliebigen "Unterschichten" ihren eigenen Status ängstlich zu erhalten suche. Dabei sei der Finanzpolitiker lediglich das letzte Glied in einer langen Kette von Untergangspropheten, die mindestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts den "Volkstod" – nicht nur in Deutschland – etwa durch Überfremdung oder Verdummung immer wieder vorhergesagt haben.

Die Vertreter der amerikanischen Variante dieser Position pflegen die Einschränkung oder gar Abschaffung der sozialen Sicherungssysteme zu fordern, damit so die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation erhalten bleibe und einer degenerativen Bevölkerungsentwicklung Einhalt geboten werde. Auch dies propagiert Sarrazin. Empirisch lasse sich keines der Antisozialstaat-Argumente belegen. Im Gegenteil, je durchlässiger der Zugang zu Bildung und Wohlstand in einer Gesellschaft sei, desto gesünder, langlebiger und auch weniger gewalttätig werde sie, so Kessel.

Dass die Beiträge der einzelnen Autoren gelegentlich inhaltlich redundant sind, ist zu verschmerzen. Immerhin sind es – entsprechend dem speziellen Forschungsschwerpunkt des jeweiligen Autors – verschiedene Blickwinkel, unter denen sie immer wieder zum selben Ergebnis kommen. Die Essays sind dabei auch für Laien gut verständlich geschrieben.

Von "Deutschland schafft sich ab" bleibt hier außer Druckerschwärze und Papier nicht viel übrig. Das konnte man auf der Gefühlsebene schon vormals vermutet haben, hier findet man es wissenschaftlich fundiert von Vertretern verschiedener relevanter Fachbereiche bestätigt. Unbedingt lesenswert!

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 1/2013

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