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Gedanken über die Natur

Wer wie ich in einer Redaktion arbeitet, wird täglich mit Meldungen aus der Wissenschaft geflutet, die sich bei näherer Betrachtung fast durchweg als geistige Umweltverschmutzung herausstellen: winzige, banale, oft werblich gefärbte "Fortschritte". Das wenige Nichttriviale herauszufiltern, ist für Wissenschaftsjournalisten zu einer Hauptbeschäftigung geworden. Da tut es richtig gut, wenn ein Naturphilosoph wie Bernd-Olaf Küppers sich nach seiner Emeritierung von der Universität Jena zurücklehnt und Fragen Revue passieren lässt, um die es eigentlich geht: Was ist Leben? Ist absolutes Wissen möglich? Gibt es unlösbare Welträtsel? Ist Zeitlichkeit erklärbar? Wohin führt uns die Wissenschaft?

Der Autor hat für diese Publikation Beiträge aus mehreren Jahrzehnten aktualisiert und Redundanzen entfernt. Damit kann man erfreut feststellen, dass es bei solchen Grundfragen nicht um ephemere Tagesaktualitäten geht. Vielmehr erinnert uns die Lektüre daran, warum wir uns eigentlich für Wissenschaft interessieren: als nachvollziehbaren Zugang zur Welt, der im spekulativen Gewaber und Gewoge nach dem Verlässlichen sucht.

Eindrucksvoll setzt sich Küppers gleich in seinem ersten Beitrag mit dem legendären Ignorabimus-Streit auseinander, den Emil Du Bois-Reymond 1872 vom Zaun brach. Darin hatte der Berliner Physiologe Probleme aufgelistet, die von den Naturwissenschaften niemals gelöst werden könnten. Das provozierte Forscher damals wie heute. Die Behauptung, dass etwas für die Wissenschaft prinzipiell unmöglich sei, ist riskant und sehr oft einfach falsch. Erfrischend zu sehen, wie Küppers die Spur vom 19. Jahrhundert über Haeckel, Hilbert und Gödel bis heute zieht und dabei beleuchtet, welche Grenzen unserem Wirklichkeitsbild tatsächlich gezogen sind.

So erinnert er am Beispiel der gödelschen Unvollständigkeitssätze in der Mathematik daran, dass "Wahrheit etwas Umfassenderes ist als bloße Beweisbarkeit". Und die Quantenphysik zeigt nicht nur, dass die menschliche Sprache für die physikalische Wirklichkeit nur begrenzt taugt. Sie modifiziert auch unseren Begriff vom Kausalgesetz: Quantensysteme sind nur statistisch vorhersagbar. Nichtlinearitäten setzen der Berechenbarkeit auch klassischchaotischer Systeme enge Grenzen. Viele Menschen neigen dazu, Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie zu ziehen. Ein sinnloses Unterfangen, das nur Tautologien hervorbrächte, denn die physikalischen Prinzipien vom Ursprung des Lebens lassen sich weit gehend erklären, allerdings "um den Preis eines eingeschränkten Lebensbegriffes".

Auch wehrt sich der Naturphilosoph gegen die schon rituelle Kritik an dem "mechanistischen" und "reduktionistischen" Weltverständnis der exakten Wissenschaften. Diese versuchten das Ganze aus dem Verhalten der Teile zu erklären und könnten deshalb das Ganze nicht mehr begreifen – nicht analytisch zerlegendes, sondern ganzheitliches und vernetztes Denken sei geboten. Eine solche Sicht zeichne jedoch "ein völlig falsches Bild der Wissenschaft", schreibt Küppers. Dem Mantra der alternativen Wissenschaft hält er entgegen, dass dem Begreifen im Sinn der Wissenschaft eine "analytische Zerlegung in Ursachen und Wirkungen" vorausgehen muss. Andernfalls würde "die strenge Methode der Kausalzerlegung durch die hermeneutische Methode unverbindlichen Weltverstehens ersetzt". Die analytische Einsicht in das "Ganze" muss dann "der bloßen Ansicht des Ganzen weichen".

Auch sei beispielsweise die Physik nichtlinearer Systeme längst dem simplen mechanistischen Weltbild entwachsen. Letztlich sei die Ganzheitsdebatte ein Relikt der Romantik, und die Gefahr gehe in Wahrheit nicht vom analytischen, sondern eher vom ganzheitlichen Denken aus, da dieses "wesentlich zur politischen Indoktrinierung und Ausbildung totalitärer Systeme beigetragen hat". Von Du Bois-Reymonds ursprünglich sieben Welträtseln bleiben am Ende laut Küppers nur noch zwei übrig: das vernünftige Denken und die damit verbundene Sprache sowie das Rätsel der Willensfreiheit. In weiteren der insgesamt zehn Kapitel ergründet der Naturphilosoph Themen wie "Was ist Leben?", Sprache und Verstehen, Information und Komplexität, Schönheit und Ordnung, Einheit und Vielheit, Zeitlichkeit und Irreversibilität. Überrascht hat mich seine Analyse der Geschichtlichkeit: Lässt sich das Weltgeschehen in Formeln fassen? Eine alte Frage, der alle Wissenschaften, die sich mit der Zukunft der Menschheit befassen, nur allzu gern auf die Spur kämen.

Was lässt sich aus Sicht der exakten Wissenschaften dazu sagen? Laut Küppers jedenfalls mehr, als man beim Anblick der erratischen menschlichen Geschichte erwarten würde. Freilich gilt es zuvor, Begriffe wie Erklärung, Verstehen, Vorhersage aus ihrer Labordefinition etwas herunterzuschrauben und sich in einem ersten Schritt von der Komplexität historischer Prozesse zu verabschieden. "Erst danach wird man Schritt für Schritt die ursprüngliche Komplexität des Problems wiederherstellen ... um so schließlich zu einem immer differenzierteren Bild des geschichtlichen Geschehens zu gelangen ..."

Es ist spannend zu sehen, wie der Autor das Phänomen der Geschichtlichkeit analysiert und hierfür die chaotischen Systeme der Naturwissenschaft als ein "interessantes Modell" erkennt. Die Rolle der Randbedingungen, wie sie in der Kosmologie oder auch in der Evolution des Lebens wesentlich in die Beschreibung eingehen, sieht er anwendbar auf die Formen menschlichen Handelns. Nicht jeder Exkurs fasziniert so wie die genannten. So frage ich mich, wie jemand, der nicht zufällig theoretische Physik studiert hat, im Abschnitt "Information" den Parcours an Formeln und Gleichungen heil übersteht. Auch Küppers’ historische Ausführungen zu Versuchen des 19. Jahrhunderts, sich absolute Erkenntnis der Natur durch reines Nachdenken zu verschaffen und auf Empirie weit gehend zu verzichten, sind zwar an sich interessant, erwecken aus heutiger Sicht jedoch eher ungläubiges Staunen darüber, wie man sich so verbohrt der Wirklichkeit verweigern konnte.

Manche Grafik, wie etwa die zur Fettsäuresynthese, wäre besser entfallen, da sie in der vorliegenden Form unzugänglich und nur verwirrend ist. Diese Kritik soll einem positiven Gesamturteil keinen Abbruch tun. Küppers’ stets klare und eingängige Sprache und vor allem die Wahl der Themen machen dieses Buch zu einem herausragenden Beitrag zum Stand der Welterkenntnis.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2013

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