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Entscheiden die ersten anderthalb Jahre?

Die Fähigkeit zum symbolischen Denken unterscheidet den Menschen vom Tier – sogar von seinen nächsten Verwandten im Tierreich, den Menschenaffen. Bereits im Kleinkindalter erlernen wir den Umgang mit Symbolen, der die Grundlage für alle Kulturleistungen bildet, die auf Kreativität und Phantasie beruhen. Bis heute ist umstritten, was Menschen im Gegensatz zu anderen Primaten zum symbolischen Denken befähigt.

Laut einem Erklärungsansatz, den etwa der amerikanische Kognitionswissenschaftler Stephen Pinker vertritt, liegt der entscheidende Unterschied in neuen Verschaltungen zwischen Hirnneuronen, die im Zuge der kindlichen Entwicklung entstehen. Die Ausbildung des symbolischen Denkens soll demnach nicht von Lernerfahrungen abhängen, sondern von genetisch bedingten Entwicklungsprozessen des Gehirns. Gegen diese Idee wendet sich der Psychiater und Psychoanalytiker Peter Hobson in seinem Buch "Die Wiege des Denkens". Nach Hobsons radikal neuem Erklärungsansatz entscheidet die emotionale Beziehung zwischen Kind und Eltern während der ersten 18 Lebensmonate über das Erlernen des Umgangs mit Symbolen. Indem Eltern gemeinsam mit ihren Kindern die Aufmerksamkeit auf Gegenstände richten, schreibt der Autor, lernen die Kleinen, mit anderen Menschen über ihre Gedanken zu kommunizieren und sich als soziale Wesen zu begreifen.

Zerrüttete emotionale Beziehungen als Ursache für Autismus

Detailliert stellt Hobson die einzelnen Phasen dar, die ein Kleinkind bei der Entwicklung des Denkens durchläuft. Als Beleg für seine Thesen führt er sowohl Studien aus der experimentellen Forschung als auch Fallbeispiele aus dem klinischen Alltag an. Mit großer Sorgfalt widmet er sich diversen Störungen in der kindlichen Entwicklung, vor allem den verschiedenen Formen des Autismus.

Die Ursache für Autismus sieht Hobson in einem zerrütteten emotionalen Verhältnis zwischen Kind und Eltern. Dabei hebt er allerdings nicht auf die "Kühlschrankmutter-Hypothese" ab, der zufolge die Mütter/Eltern für das gestörte emotionale Verhältnis zum Kind verantwortlich sein sollen und die seit den 1960er Jahren als widerlegt gilt. Stattdessen postuliert Hobson, die betroffenen Kinder seien nicht in der Lage, auf die Interaktionen ihrer Eltern einzugehen, was dann zur Entwicklung der Autismus-typischen Symptome führe. Hobson leugnet also nicht, dass es angeborene Einschränkungen bei autistischen Kindern gibt – er setzt sie vielmehr voraus, um zu erklären, wie sie zu verschlechterten sozialen Interaktionen mit den Eltern führen und als Konsequenz daraus zu Autismus-Symptomen; die Eltern trifft ihm zufolge keine Schuld. Zwar kann der Autor nicht erklären, warum Autismus überwiegend bei Männern auftritt. Dennoch wird sein Ansatz sicher dazu beitragen, einen neuen Blick auf dieses längst noch nicht verstandene Phänomen zu werfen.

Mit seinem Buch richtet sich Hobson nicht nur an Fachleute. Sein klarer und gut strukturierter Schreibstil macht selbst komplexe wissenschaftliche Experimente einem breiten Publikum verständlich. "Die Wiege des Denkens" ist ein brillantes Stück populärer Wissenschaftsdarstellung, das einen neuen Blick auf die Bedeutung frühkindlicher Entwicklung und die Einzigartigkeit des Menschen gewährt.

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