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Das Buch für die verlängerte Kaffeepause

Das Büchlein "Von Zahlen und Figuren: Proben mathematischen Denkens für Liebhaber der Mathematik" von Hans Rademacher und Otto Toeplitz, 1930 erstmals bei Springer erschienen, ist ein echter Klassiker: unübertroffen in seiner Verknüpfung von alten Fragen und (damals) modernen Antworten und noch heute als Lektüre unbedingt zu empfehlen.

Nun kommt 80 Jahre später, wieder bei Springer, ein geistiges Kind des genialen Wurfs zur Welt. Die russischen Mathematiker Dmitry Fuchs und Serge Tabachnikov hatten sich "Von Zahlen und Figuren" zum Vorbild für die Arbeiten genommen, die sie zwischen 1970 bis 1990 in der populären sowjetischen Zeitschrift "Kvant" veröffentlichten. Nach dem Ende der Sowjetunion übersiedelten beide in die USA; ihre Neigung zu populärer Darstellung von Mathematik haben sie beibehalten. So ist Tabachnikov einer der Herausgeber der Zeitschrift "The American Mathematical Monthly". Artikel aus "Kvant" erschienen in der englischsprachigen Zeitschrift "Quantum", der nur ein elfjähriges Leben (von 1990 bis 2001) beschieden war. 30 dieser Abhandlungen wurden 2007 zu einem Buch mit dem merkwürdigen Titel "Mathematical Omnibus " zusammengefasst; dessen deutsche Übersetzung – mit ebenso seltsamem Titel – ist das vorliegende Buch.

Das Werk ist in der Tat bereits jetzt schon als Klassiker zu bezeichnen; so mustergültig haben die Autoren jahrhundertealte Problemstellungen mit neuen Methoden verknüpft. Groß und schwer geworden ist das Kind: mehr als dreimal so dick wie das Vorbild und weitaus anspruchsvoller.

Bei der Auswahl der Themen haben sich die Autoren von der Schönheit der Probleme leiten lassen. Nun ja – auch in der Mathematik liegt Schönheit im Auge des Betrachters, aber spannend sind die 30 "Vorlesungen" allemal. Erfreulich groß ist die Anzahl der Abbildungen – schließlich stammen sechs der acht Großkapitel aus den Bereichen Geometrie und Topologie. Am Anfang jeder Vorlesung steht eine frei-assoziative, häufig hintersinnige künstlerische Illustration von Sergey Ivanov, der bereits für "Kvant" und "Quantum" gearbeitet hat. Zu jedem der ungefähr 100 im Buch erwähnten Mathematiker ist ein Porträtfoto abgedruckt, darunter zahlreiche aus dem Archiv des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach.

Man kann die einzelnen Lektionen mit wenigen Ausnahmen in beliebiger Reihenfolge angehen. Wer nach dem Durcharbeiten nicht genug vom Thema hat, findet in den Übungsaufgaben weitere Herausforderungen; erfreulicherweise bietet der Anhang zu vielen Aufgaben auch ausführliche Lösungen und nicht nur Lösungshinweise.

Für wen ist das Buch gedacht? Fuchs und Tabachnikov geben hier an erster Stelle Studienanfänger, aber auch Teilnehmer von Fachseminaren an und erweitern dann den Verwendungsbereich großzügig auf Matheklubs an Gymnasien und Kaffeepausen. Das ist vielleicht gut gemeint, aber unrealistisch. Schüler oder Schülerinnen müssten schon extrem begabt und hartnäckig zugleich sein, um ohne Unterstützung mit diesem Stoff zu Rande zu kommen. Wer dagegen eine Vorlesung von Fuchs und Tabachnikov als Zeitvertreib in der Kaffeepause konsumieren will, muss sich schon sehr gut in der Mathematik auskennen – und wird dann die Pause gewaltig überziehen, weil ihn das Problem nicht mehr loslässt.

Die erste Lektion trägt den Titel "Kann eine Zahl ungefähr rational sein?". Eine geschickte Wahl, denn erstens gibt die Lektion selbst, von ihrer großen Länge abgesehen, ein sehr charakteristisches Bild des ganzen Buchs ab, und zweitens ist die Formulierung auf den ersten Blick so abstrus, dass sie Interesse weckt. Beliebig dicht an jeder rationalen Zahl liegen irrationale Zahlen und umgekehrt – da ist "ungefähr rational" ein offensichtlich sinnloser Begriff.

Die Autoren lösen den Widerspruch auf, indem sie "rational" zu "rational mit kleinem Nenner" verschärfen. Nennen wir eine Zahl "ungefähr rational", wenn es in ihrer Nähe eine rationale Zahl gibt, in deren Bruchdarstellung der Nenner, sagen wir, dreistellig ist. Dazu ist zu klären, was unter Nähe, sprich einer guten Näherung, zu verstehen ist. Ein erster Versuch einer solchen Definition stellt sich als nicht tragfähig heraus, da es unendlich viele "gute" rationale Näherungen gibt. Der über dreieinhalb Seiten gehende Beweis des zugehörigen Satzes verlangt Kenntnisse aus der Vektorrechnung und Routine im Umgang mit Ungleichungen.

Es folgt die typische Kost, an die Besucher von Mathematikvorlesungen gewöhnt sind: Zunächst werden neue Begriffe und Sachverhalte eingeführt, deren Zusammenhang mit dem angestrebten Ergebnis alles andere als offensichtlich ist. Hier ist es der Satz von Hurwitz und Borel über quadratische Näherungen, in dem merkwürdigerweise die Zahl √5 eine Rolle spielt. "Was ist die irrationalste aller irrationalen Zahlen, die Zahl, die sich am meisten gegen eine rationale Näherung sträubt? Erstaunlicherweise ist diese schlimmste Zahl genau die Zahl, die von Generationen von Künstlern, Bildhauern und Architekten am meisten geliebt wurde: Es ist der Goldene Schnitt (1+√5)/2."

Es folgt der Begriff des Kettenbruchs; das ist ein Bruch, deren Nenner eine Summe aus einer natürlichen Zahl und einem Bruch ist, dessen Nenner wiederum... Dann wird erklärt, was Kettenbrüche mit dem euklidischen Algorithmus zu tun haben, jener seit der Antike bekannten Methode, mit der man den größten gemeinsamen Teiler zweier Zahlen bestimmen kann.

Nach einigen Propositionen und Lemmata kommt dann endlich der alles klärende Satz: Es ist die Kettenbruchentwicklung, die am Ende die Entscheidung liefert, ob eine Zahl ungefähr rational ist. Im Einzelfall muss die Zahl nur so genau bekannt sein, wie der Taschenrechner sie darstellt; dann kann man alles, was man für die Entscheidung braucht, ausrechnen – mit dem Taschenrechner.

Das Werk ist sehr empfehlenswert für alle, die Freude an höherer Mathematik haben und sich nicht vor der zugehörigen Anstrengung scheuen!

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/2011

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