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Kann man der Vereinsamung entrinnen?

"Wenn du schnell gehen willst, dann gehe allein. Wenn du weit gehen willst, gehe mit anderen." Mit diesem afrikanischen Sprichwort beginnt das spannend geschriebene Buch des Neurowissenschaftlers John Cacioppo und William Patrick, einem ehemaligen Wissenschaftslektor bei Harvard University Press. Cacioppos bedeutsame Forschungsarbeiten bilden die Grundlagen des Buchs.

Offenbar gibt es neben Selbstverwirklichung und Karriere noch andere Lebensziele, die ein Mensch auf Grund seiner biologischen Wurzeln anstrebt. "Wir alle sind Angehörige einer sozialen Spezies", stellt Cacioppo fest. Seine komplexe und zugleich leicht verständliche Darstellung zeigt, dass der Mensch ein durch und durch soziales Wesen ist. Im Laufe einer langen Evolution bildeten sich neuronale, genetische und hormonelle Strukturen im Einklang mit dem Leben in Gemeinschaften aus. Ein Mensch schafft Verbindungen und Strukturen, die über ihn selbst hinausgehen. Soziales Verhalten begünstigt das Überleben des Einzelnen und seiner ganzen Art. Das Gefühl der Vereinsamung geht mit einem kaum zu überwindenden Schmerz einher. Dieser Schmerz soll den Menschen veranlassen, an beeinträchtigten Beziehungen zu arbeiten und so die Isolation zu überwinden.

Doch dies ist heute sicherlich schwieriger als zur Steinzeit, da die moderne Gesellschaft komplizierter ist. Alleinsein ist ein viel ernsteres Problem, als allgemein angenommen wird. Vereinsamung verringert die Lebenserwartung: Soziale Isolation wirkt ähnlich gesundheitsschädlich wie Bluthochdruck, Bewegungsmangel, Übergewicht oder Rauchen. Alleinsein kann die DNA-Transkription in den Zellen des Immunsystems beeinträchtigen. Hierbei ist das Alleinsein nicht an sich gefährlich, sondern das anhaltende Gefühl des Zurückgewiesenwerdens.

Sich einsam zu fühlen, bedeutet nicht, dass man über weniger soziale Fertigkeiten verfügt. Schwierigkeiten entstehen erst, wenn das Gefühl des Verlassenseins eine Grenze überschreitet. Dann setzen die Vereinsamten soziale Fähigkeiten seltener ein und deuten soziale Signale falsch. Schließlich durchdringt das Gefühl der Vereinsamung das gesamte Denken, und auch Willenskraft und Durchhaltevermögen sind beeinträchtigt. Es fällt den Betroffenen zunehmend schwerer, die emotionale Selbstkontrolle zu bewahren. Ein Teufelskreislauf entsteht: Das Verhalten des Vereinsamten verhindert, dass er Beziehungen zu anderen knüpft und treibt ihn noch weiter in die Isolation.

Cacioppo zeigt, wie man diesem Teufelskreislauf entrinnen kann. "EASE" heißt sein Tipp: Erweitern des Aktionsradius, Aktionsplan, Selektieren und Erwartung des Besten. Ein Vereinsamter zieht sich oftmals zurück und verfällt in Passivität. Ganz allmählich, so Cacioppo, soll der Einsame seinen zwischenmenschlichen Aktionsradius erweitern. Am Beginn können Gespräche in einem Laden oder in einer Bibliothek stehen. Soziales Engagement wie das Arbeiten in einem Hospiz können hinzukommen. Der Aktionsplan hilft, das Beste auszuwählen. Ist man schüchtern, kann beispielsweise die Arbeit in einem Tierheim den größten Nutzen haben. Wichtig ist zudem, die besten Beziehungen auszusuchen und zu verstärken, das heißt zu selektieren. Denn bei Einsamkeit zählt vor allem die Qualität und nicht die Quantität der sozialen Kontakte. Das Beste erwarten – Optimismus – erleichtert gutes Auftreten und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass andere Sympathie zeigen.

Ob "EASE" immer ausreicht, dem Alleinsein zu entrinnen, darf bezweifelt werden – zumal in Zukunft der Kampf gegen die Vereinsamung schwieriger werden wird. Wie Cacioppo im letzten Teil seines Buchs zeigt, wächst die Gefahr des Alleinseins: Zum einen erhöht sich mit dem Älterwerden das Risiko zu vereinsamen, und die amerikanische Gesellschaft altert ebenso wie die deutsche mit hoher Geschwindigkeit. Zugleich trägt die wirtschaftliche Entwicklung zum Alleinsein bei. Werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer? Viele Länder wie die USA haben zwar an Wohlstand gewonnen, doch dieser Einkommenszuwachs kam nicht allen sozialen Schichten in gleichem Maße zugute. In den USA waren diejenigen die Gewinner, die ohnehin bereits der Oberschicht angehörten. Im Mittelstand und in ärmeren Schichten hingegen blieb das Einkommen dasselbe oder verschlechterte sich sogar. Diese Entwicklung gilt auch für andere Länder – besonders in denen mit schnellem Wirtschaftswachstum, allen voran China und Indien.

Cacioppo ist überzeugt, dass schnelles Wirtschaftswachstum mit Vereinsamung einhergeht: "Eine Flut kann durchaus viele Boote schwimmen lassen, aber in einer Kultur der sozialen Isolation, atomisiert durch soziale und wirtschaftliche Umwälzungen und geteilt durch enorme Ungleichheiten, können in ihr Millionen untergehen." Die Zukunft wird zeigen, ob Cacioppo Recht behält.

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