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Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst

Hat mein Leben einen Sinn? Oder: Wofür lohnt es sich zu leben? Oder auch: Kann ich mein bisheriges Leben als gelungen ansehen? Die Frage ist so groß, dass man sie im Alltag in aller Regel beiseite schiebt. Nur bei großen Entscheidungen spielt sie eine Rolle, oder wenn man im Alter eine kritische Bilanz seines bisherigen Lebens zieht.

Die Frage zu stellen ist nicht ungefährlich. Was soll man tun, wenn die Antwort "Nein" lautet? Der Philosoph und Autor Albert Camus (1913 – 1960) schrieb: "Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere … kommt später."

Die abendländische Tradition ist stark von der christlichen Antwort auf die Sinnfrage geprägt: Gott selbst ist es, der deinem Leben einen Sinn gibt. Diese Antwort wirkt in vielerlei Verkleidungen bis heute nach. Die Vorstellung, Gott wirke durch direkten Eingriff und gegenwärtig in das Weltgeschehen ein, hat zwar ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Geschichten vom Weihnachtsmann.

Auch von der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) beschworenen Ersatzfigur "Weltgeist" ist nur noch selten die Rede. Gleichwohl hält sich hartnäckig die Idee, die ganze Welt steuere auf ein höheres Ziel zu – und das Leben des Einzelnen gewinne seinen Sinn dadurch, dass er sich an dieser Bewegung hin zum Höheren beteilige.

Der Wissenschaftstheoretiker Bernulf Kanitscheider, der bis 2007 den Lehrstuhl für Philosophie der Naturwissenschaften in Gießen innehatte, zerpflückt systematisch und mit großer Sorgfalt alle diese Vorstellungen. Die biologische Evolution hat zwar im Lauf der Zeit immer höher entwickelte Lebensformen hervorgebracht; dennoch ist es abwegig, daraus zu schließen, sie steuere auf ein höheres Ziel zu.

Die physikalische Entwicklung der Welt wird ohnehin in dem bekannten Wärmetod enden; obendrein ist die Vorstellung, man könne in seinem Leben über einen räumlich und zeitlich winzigen Teil des Universums hinaus überhaupt etwas bewirken, hoffnungslos realitätsfern. Schon in einer lumpigen Million Jahre wird vom Wirken unserer Zeitgenossen – und wahrscheinlich der Menschen überhaupt – nicht mehr die geringste Spur zu finden sein.

Unverhältnismäßig viel Raum widmet Kanitscheider der Auseinandersetzung mit der christlichen Religion, wohl weil er dem erstarkenden christlichen Fundamentalismus etwas entgegensetzen möchte. So entlarvt er die Sinnsuche des Hans Küng als leeres Wortgeklingel, erklärt den Versuch seines Fachkollegen Jürgen Habermas, der Religion ein von der kritischen Vernunft unbehelligtes Reservat einzuräumen, zur "Kastration der Vernunft" und findet scharfe Worte gegen den Versuch das Wiener Kardinals Christoph Schönborn, die Evolution mittels "Intelligent Design" zu erklären. Nein, es gibt keinen Anlass, etwas zu glauben, das man mit seinem Alltagsverstand ohne Weiteres verwerfen würde, nur weil es mit dem Etikett "Religion" und dem Anspruch auf göttliche Offenbarung daherkommt.

Am Ende ist der Befund ernüchternd einfach. Die Welt da draußen ist schlicht sinnlos. Die Fundamentalphysiker suchen vielleicht nach einer "Theory of Everything". Aber selbst wenn sie eine solche alles erklärende Weltformel finden würden, dann würden sie darin nicht den Sinn der Welt sehen. Berufspessimisten wie Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) und sein Verehrer Leo Tolstoi (1828 – 1910) haben ihrer Erkenntnis von der Sinnlosigkeit der Welt literarisch eindrucksvoll Ausdruck verliehen.

Aber es gibt keinen Anlass, aus diesem Grund in Pessimismus zu verfallen, sagt Kanitscheider. Hat der Mensch sich erst von der Vorstellung verabschiedet, dass der Sinn seines Lebens "von außen", von einer Instanz außerhalb seiner selbst, zu kommen hat, lebt er fortan ganz ungeniert. Man muss die abendländische Tradition nur ein Stück weiter zurückverfolgen, bis zu den Griechen der Antike, und findet Lebensphilosophien, die nicht nur ohne externe Sinngebung auskommen, sondern auch von der sauertöpfischen Pflichtethik Immanuel Kants und der Drohung mit Strafen im Jenseits völlig frei sind.

Aristippos, der Gründer der kyrenaischen Schule des Hedonismus, "war ein Künstler der Lebenspraxis und bezeichnete den Lustgewinn als oberstes Lebensziel". Wohlgemerkt, nicht die hemmungslose Suche nach dem Vergnügen. So empfehle es sich, beim Umgang mit Freudenmädchen darauf zu achten, dass man nicht von der Leidenschaft besessen wird, "denn zu gebieten über die Lust und ihr nicht zu unterliegen, das ist wahrhaft preiswürdig, nicht sich ihr zu versagen", so zitiert Kanitscheider zustimmend seinen antiken Philosophenkollegen.

In der Tat, der Vollrausch ist kein erstrebenswerter Lebenszustand und, wenn es nach Aristippos geht, die heftige Verliebtheit auch nicht – obgleich sich der weise Hedonist ein paar Ausrutscher in die Maßlosigkeit genehmigt, wenn deren Anzahl ein zuträgliches Maß nicht übersteigt.

Gönne dir deinen Spaß, ohne dir daraus das christlich geprägte schlechte Gewissen zu machen, sagt Kanitscheider, setze deine Vernunft ein, damit nicht aus Versehen Maßlosigkeit und Unverstand dir den Spaß verderben oder anderen Schaden zufügen, wehre dich mit dem Mittel des Humors gegen die Prinzipienfestigkeit und den moralischen Rigorismus, die nur allzu leicht ins Tragische abgleiten – und das war’s.

Von der protestantischen Arbeitsethik und ähnlichen Lebenseinstellungen bleibt nur der Hinweis, dass der rechte Spaß sich im passiven Konsum angenehmer Dinge auf die Dauer nicht einstellen will. Bewegung sei schon erforderlich, nicht nur in sexuellen Dingen, wo dies unmittelbar einleuchte; auch bei anderen Genüssen komme ein lustvolles (zum Beispiel Erfolgs-)Erlebnis erst nach erheblicher Anstrengung. Kanitscheider nennt an dieser Stelle seine persönlichen Lieblingsbeschäftigungen Bergsteigen und klassische Kammermusik, als Beispiele ohne den üblichen Philosophenanspruch auf Allgemeingültigkeit.

Das kann ich alles mit der größten Begeisterung nachvollziehen. Trotzdem bleibt ein schales Gefühl zurück, und zwar offensichtlich nicht nur bei mir, denn Kanitscheider selbst geht darauf ein, wie schwer es uns fällt, uns von diesem übermächtigen Teil der abendländischen Tradition zu verabschieden.

Wenn ich am Ende meines Lebens konstatieren kann, dass ich meinen Spaß gehabt habe, vielleicht sogar reichlich: Soll das dann wirklich alles gewesen sein? Will ich nicht eine Spur in der Weltgeschichte hinterlassen, auf die ich stolz sein kann, auch wenn sie sich schon nach wenigen hundert Jahren verliert? Ist nicht Albert Schweitzer ein Mensch, dessen Leben in jedermanns Augen, einschließlich seiner eigenen, in ganz besonderem Maße einen Sinn hatte?

Das bezweifelt auch Kanitscheider nicht. Nur lässt sich Albert Schweitzers Lebenshaltung "nicht zwingend fundieren … Man kann sehr gut seine Lebenserfüllung im Sozialbereich finden, aber kaum eine Argumentation aufbauen, wonach der Lebenssinn notwendigerweise in der Unterstützung Hilfsbedürftiger bestehen muss."

Ach so. Stellt man einem Philosophen eine Frage, bekommt man eine allgemein gültige Antwort. Die ist eben wegen ihrer Allgemeingültigkeit im Allgemeinen unvollständig. Was soll ich tun? "Lebe tugendhaft ", sagt der Philosoph, denn das ist die einzige Vorschrift, die er ohne Ansehen der Person einigermaßen zwingend begründen kann. Worin besteht der Sinn des Lebens? "Im gepflegten Genuss", sagt der Philosoph, denn das ist das Einzige, was er ohne Ansehen der Person als erstrebenswert begründen kann. Beide Antworten sind nicht erschöpfend und können es gar nicht sein. Sie liefern nur einen "Rahmen", in dem der Einzelne seine individuellen Vorstellungen entfalten kann.

Es kann sein, dass dieser Rahmen für viele Menschen, die mit der zugehörigen Freiheit nicht zu Rande kommen, zu weit ist. Ein Mensch, den ich als väterlichen Freund zu schätzen gelernt hatte, hat sich im Alter von 50 Jahren das Leben genommen, weil er im Weiterleben keinen Sinn mehr sah; so jedenfalls musste man seinen Abschiedsbrief verstehen.

"Jemand, der ohne zwingenden Grund, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, ohne Not und Krankheit das Leben verlässt, hat nicht verstanden, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist", sagt Kanitscheider. Das dürfte auf meinen Freund zutreffen – was seinen Tod in meinen Augen nicht weniger tragisch macht. Erst wenige Jahre zuvor hatte er einer sehr traditionell christlichen Grundhaltung bewusst den Rücken gekehrt.

Man liest immer wieder von Ärzten mit langjähriger Berufserfahrung, die sorgfältig und wohl überlegt begründen können, warum sie in gewissen Fällen das Verabreichen eines Placebos und damit einen Akt vorsätzlicher Täuschung im Interesse des Patienten für geboten halten. Da gewinnt ganz unerwartet die von Kanitscheider so gnadenlos ad absurdum geführte traditionelle Vorstellung vom externen Sinn des Lebens eine neue – problematische – Rechtfertigung.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft, 07/2009

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