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Mensch statt Patient

Rund jeder Dritte erkrankt im Lauf seines Lebens an einer psychischen Störung. Trotzdem gilt ein solches Schicksal noch immer als Stigma. Und obwohl jedes Jahr neue Psychopharmaka auf den Markt kommen, lässt sich das Leid allein damit meist nicht vertreiben. Stefan Weinman, Gesundheitswissenschaftler und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin, geht diesen Problemen auf den Grund.

Ohne jede Polemik erläutert der Arzt und Forscher seinen Standpunkt: Sowohl beim gesellschaftlichen Umgang mit den Betroffenen als auch bei der Entwicklung neuer Medikamente liegt so manches im Argen. Um diese Missstände aufzuzeigen, beruft er sich einerseits auf Studienergebnisse, hinterfragt sie andererseits aber auch kritisch. Denn empirische Befunde spiegelten mitunter nicht die Wahrheit wider, glaubt Weinmann. Kleine Stichproben sowie der Wettbewerb um finanzielle Fördermittel beeinträchtigten die Qualität der Forschung.

Häufig würden Psychopharmaka etwa nur dahingehend geprüft, ob sie überhaupt eine Wirkung haben. Aber manchmal sei eben nicht entscheidend, ob die Symptome selbst, zum Beispiel Halluzinationen, nachlassen, sondern ob sich der Patient unter Medikation im Ganzen besser fühlt. Untersuchungen, die diese Frage nicht klären, seien nur begrenzt aussagekräftig.

Besonders spannend ist Weinmanns Auseinandersetzung mit der eigenen Zunft. Er gewährt einen Blick hinter die Kulissen, schildert das enge Zeitmanagement der Klinikangestellten, die sich vor lauter Verwaltungs- und Etikettierungsarbeit kaum mehr den Menschen zuwenden können.

Noch ein weiteres Problem hat Weinmann bei seinen Kollegen ausgemacht: Sie nehmen eine schwierige Vermittlerposition ein zwischen den psychisch Kranken einerseits und dem Rest der Gesellschaft andererseits, der nichts mit "denen" zu tun haben wolle. Manche Psychiater zementierten diese Grenzen, indem sie den Rezeptblock zwischen sich und die Patienten schöben. Und andere bekämpften ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber den Schicksalen ihrer Patienten, indem sie Medikamente verordneten.

Der Autor fordert, zwischen Gesunden und Kranken eine Brücke zu schlagen und jeden Patienten in erster Linie als Menschen zu betrachten. Psychopharmaka könnten, müssten aber nicht Teil der Behandlung sein. Ärzte sollten zunächst den Rezeptblock stecken lassen und den zwischenmenschlichen Kontakt nutzen.

Dieses Buch gehört auf jede Lektüreliste von Medizin-Studenten, weil es zum kritischen Denken und zu einer offenen Auseinandersetzung anregt. Deshalb ist es auch allen zu empfehlen, die anderweitig mit dem Gesundheitssystem zu tun haben. Die (selbst)kritische Analyse des Psychiaters ist eine Freude für jeden Wissenschaftler, der sich den Blick für die großen sozialen Zusammenhänge bewahren will.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 12/2008

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