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Alles im Fluss

Der "Kriegs- Mord- und Todt- Jammer- und Noth-Calender" des thüringischen Pfarrers Abraham Seidel (gest. 1680) erfreute sich lange Zeit enormer Beliebtheit. Mehr als 170 Jahre lang, von 1678 bis 1849, fand das Werk Absatz. Das Besondere an ihm war, dass es nicht nur die übliche Auffassung bediente, wonach die menschliche Zivilisation seit den Zeiten des himmlischen Paradieses permanent im Abstieg begriffen sei und unausweichlich aufs Verderben zusteuere. Sondern es stellte auch zeitgenössische politische Ereignisse in den Fokus und wandte den Blick somit der Gegenwart zu.

Der "Calender" markierte damit einen Paradigmenwechsel, wie der Historiker Achim Landwehr im vorliegenden Buch beschreibt. Im 17. Jahrhundert löste man sich langsam von der christlichen Heilsgeschichte, wonach die ferne Vergangenheit eine goldene gewesen sei, während sich nun ein steter Niedergang vollziehe und Gott für die Zukunft den Weltuntergang und das Jüngste Gericht vorherbestimmt habe. Die Reflexion der Gegenwart hatte in diesem Zeitschema fast keinen Platz gehabt – nun jedoch, in der Neuzeit, änderte sich die Situation. Man hatte blutige Konfessions- und Bürgerkriege überstanden, ebenso Wirtschaftskrisen, Klimaverschlechterungen und verheerende Seuchen. Sogar die Türkengefahr und die Pest, zuvor als göttliche Strafgerichte sowie als Aufruf zu Buße und Umkehr gedeutet, wusste man gegen Ende des 17. Jahrhunderts hinter sich. Es stimmte offenkundig nicht, dass alles immer schlechter wird, und auch die Apokalypse ließ trotz vieler Ankündigungen auf sich warten. Somit richtete sich die Aufmerksamkeit der Menschen verstärkt auf das Jetzt.

Langsam einsetzendes Nachrichtengewitter

Landwehr belegt das an vielen Beispielen – unter anderem am Pressewesen, das ab zirka 1600 aufkam und in periodischen Abständen über gegenwärtige Ereignisse berichtete. Im deutschsprachigen Raum erschienen Ende des 17. Jahrhunderts bereits 60 Zeitungen, die sich vielfach an eine breite Öffentlichkeit wandten. Sie reflektierten aktuelle Begebenheiten, wirkten ihrerseits aber auch auf das Zeitgeschehen zurück. Landwehr zufolge rief die bis dahin ungekannte Nachrichtenflut den Eindruck eines stetigen Zeitflusses hervor. Das gleichzeitige Wahrnehmen der Meldungen seitens vieler Leser habe zudem das Gefühl einer gemeinsam geteilten Gegenwart erzeugt. Wer Schwierigkeiten damit hatte, die Lektüre zu verstehen, konnte auf Konversations- und Zeitungslexika zurückgreifen. Zu Landwehrs Belegen zählen auch historische Modejournale und Romane. Letztere waren zwar fiktiv, knüpften in ihren Handlungssträngen aber an die Gegenwart an.

Das Hauptaugenmerk richtet der Autor jedoch auf die Kalender, die seit dem 17. Jahrhundert mit leeren Blättern für eigene Notizen veröffentlicht wurden. Zuvor hatten in ihnen astrologische Informationen und lebenspraktische Hinweise dominiert, etwa zum Aderlass, zum Säen oder Ernten, die nun zugunsten beschreibbarer Seiten reduziert wurden. In der Gegend um Mecklenburg wurde 1682 sogar das Publizieren astrologischer Inhalte in Kalendern verboten.

Blick in die Zukunft

Neu war auch die mathematisch begründete Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie stellte der vorher heilsgeschichtlich hergeleiteten, apokalyptischen Zukunft eine Vielzahl möglicher künftiger Entwicklungen gegenüber, die aus der Gegenwart heraus und auf Berechnungen gestützt postuliert wurden. Zwar waren die Ergebnisse fiktiv, aber durch ihre Verwurzelung im Jetzt keineswegs irrational.

Landwehr bietet in seinem Buch einen spannenden Einblick in die Kulturgeschichte des Zeitbewusstseins. Er zeigt zudem, dass es eine Vielzahl sich überschneidender Zeitsysteme gibt, die in einer Kultur parallel existieren können. Das heute dominierende Konzept einer linearen Zeit ("Zeitstrahl") ist nur eines von vielen möglichen. Weiterhin versucht der Autor, Parallelen zu unserer Gegenwart aufzuzeigen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts, schreibt er, haben sich erneut apokalyptische Ängste ausgebreitet, nachdem die Fortschritts- und Wachstumsgläubigkeit vergangener Jahrzehnte verloren gegangen ist. Die Furcht vor der Katastrophe ist heute wohl begründeter als im späten Mittelalter, zumal wir unsere ökologischen und ökonomischen Probleme selbst verursachen. Dennoch verhindern hochkomplexe ökologische, wirtschaftliche und soziale Mechanismen auch jetzt eine detaillierte Zukunftsprognose.

Das Werk liefert interessante Antworten auf die Frage, welche Folgen der Verlust vermeintlich sicheren Wissens hat, vor allem im Hinblick auf die Wirklichkeits- und Zeitwahrnehmung. Zudem zeigt es exemplarisch auf, wie historische Erkenntnisse die Gegenwart beeinflussen können.

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