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Die These von der Einheit der Werte

Es geht in diesem Buch nicht um Igel. Ronald Dworkin, Professor für Philosophie und Recht an der New York University und emeritierter Professor für Recht am University College in London, spielt vielmehr auf einen Vers des altgriechischen Dichters Archilochos an: "Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache." Damit ist nicht weniger gemeint als die "These von der Einheit der Werte". "Nicht nur bildet die Wahrheit über die gelungene Lebensführung, das gute Leben und all das, was wir lieben und wertschätzen, ein zusammenhängendes Ganzes, diese unterschiedlichen Aspekte der Wahrheit stützen sich zudem wechselseitig."

Die ungeheure Tragweite dieser These stellt sich erst im Verlauf der Lektüre heraus – das Buch ist zwar lang, aber alles andere als geschwätzig. Dworkin hat in ihm die Summe eines langen Philosophenlebens zusammengefasst. Überdies ist das Werk durch den Tod seines Autors am 14. Februar dieses Jahres in den Rang eines Testaments aufgerückt.

Durchwegs bedient sich Dworkin – für Philosophen ungewöhnlich – einer klaren und eingängigen, mit anschaulichen Beispielen angereicherten Sprache. Nur das Bestreben der Übersetzer, den Text bis in die vielen englischen Gerundiums- und Partizipkonstruktionen hinein getreulich wiederzugeben, macht das Lesen stellenweise etwas mühsam.

Das erste Kapitel verlangt ein gewisses Durchhaltevermögen, denn es mutet zunächst so reizvoll an wie der Geschäftsverteilungsplan einer Oberpostdirektion. Die Abteilung "Ethik und Moral" gliedert sich in die Unterabteilungen "Ethik", zuständig für Fragen der gelungenen Lebensführung, und "Moral", die sich mit unserem Verhalten anderen Menschen gegenüber befasst – bis auf die etwas vom Gewohnten abweichende Nomenklatur nicht wirklich überraschend. Aber woher erhält die Abteilung ihre Direktiven? Von keiner anderen Stelle! Erkenntnisse über die Natur des Menschen, allgemeine Denkprinzipien oder Glaubenssätze nimmt sie zwar zur Kenntnis; aber ob sie für die Abteilung "Ethik und Moral" relevant sind, entscheidet niemand anders als sie selbst. Das ist, auf die Spitze getrieben, das Verbot des "naturalistischen Fehlschlusses" vom Sein auf das Sollen, das der schottische Philosoph David Hume (1711 – 1776) in seinem "Treatise of Human Nature" aufstellte.

Die Gegenstände, mit denen sich die Abteilung befasst, kommen in der Natur nicht vor. Und mit der Herleitung aus Grundprinzipien ("Axiomen") kann man zwar ethische und moralische Sätze begründen; aber die Anerkennung der Axiome fällt wieder in den Geschäftsbereich der Abteilung.

Gleichwohl besteht Dworkin darauf, dass es auf diesem Gebiet ewige Wahrheiten gebe. Und die seien selbst dann gültig, wenn kein Mensch auf der Welt sie je gedacht hätte oder jeder sie verwerfen würde. Wie aber findet man diese Wahrheiten, wenn nicht durch Erfahrung oder logische Deduktion, von göttlicher Eingebung ganz zu schweigen? Indem man ein System von Sätzen schafft, die sich gegenseitig stützen und bestätigen und bereits dadurch ein überzeugendes Ganzes abgeben.

Das klingt auf den ersten Blick wie ein zirkuläres Argument: Wer A mit B begründet und B mit A, hat am Ende überhaupt nichts begründet. Dagegen wendet Dworkin ein, dass einem erstens – wie oben ausführlich dargelegt – nichts anderes übrig bleibt und zweitens der Vorwurf der Zirkularität an Kraft verliert, wenn der Zirkel groß genug ist. In der Tat haben die Mathematiker genau das in ihrem Grundlagenstreit durchdiskutiert: Das Gebäude der Mathematik ist auf Sand gebaut, weil ein anderes Fundament (nachweislich) nicht zur Verfügung steht; es hält trotzdem, weil es hinreichend massiv ist.

An einer einzigen Stelle im Buch gesteht Dworkin das offen ein und liefert das entwaffnende Argument gleich hinterher (S. 72): "Ist diese Erläuterung der Logik der Gründe zirkulär? Ja, aber nicht zirkulärer als unsere verlässliche Praxis, im Rahmen der Wissenschaft Theorien der wissenschaftlichen Methode zu entwickeln, die wir dann als Bewertungsmaßstab für Wissenschaftlichkeit verwenden."

Wie bringt man nun die verschiedensten ethischen und moralischen Aussagen so miteinander in Einklang, dass sie ein zusammenhängendes, sich gegenseitig stützendes System bilden? Dworkin nennt das entscheidende Mittel "Interpretation" und meint die ganze schillernde Vielfalt des Begriffs. Verschiedene Leute pflegen sich uneinig darüber zu sein, wie ein Gesetzestext oder auch ein Kunstwerk aufzufassen ist; dem steht, so Dworkin, nicht entgegen, dass eine Interpretation wahrheitsfähig ist. Es gibt zumindest im Prinzip die eine richtige Interpretation, und anders als in der Physik hindern uns keine prinzipiellen Grenzen daran, sie zu finden. Praktische Grenzen gibt es zuhauf, sonst wäre der allgegenwärtige Streit über künstlerische wie juristische und ethische Fragen schwerlich zu erklären. Für die Wahrheitsfindung nach Dworkin muss man in einem langen, mühsamen Prozess Erfahrungen sammeln und Argumente abwägen.

Vor allem aber müsse die ganze Interpretiererei von dem Bestreben geleitet sein, das einheitliche Gebäude der Werte herzustellen. Insbesondere seien Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Demokratie so zu interpretieren, dass sie eben nicht, wie häufig behauptet, im Widerspruch zueinander stehen.

Im zweiten Teil des Buchs setzt Dworkin dieses Programm dann in die Tat um, mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. So postuliert er, dass jeder Mensch zu einer gelungenen Lebensführung verpflichtet sei. Daraus ergibt sich die Forderung, dass niemand ihn an der Erfüllung dieser Pflicht hindern darf, und daraus die klassischen Menschenrechte, die im deutschen Grundgesetz auf die "freie Entfaltung der Persönlichkeit" hinauslaufen.

Unter Dworkins Interpretation bleibt auch von der gängigen Vorstellung von Demokratie nicht viel übrig. Er zählt zahlreiche Fälle auf, in denen eine Mehrheitsentscheidung die – von ihm sehr extensiv ausgelegten – Menschenrechte beeinträchtigt, und setzt an die Stelle des "majoritären" Demokratiebegriffs einen "partnerschaftlichen", den ich mir näher ausgeführt gewünscht hätte.

Immerhin rechtfertigt er ausführlich die "judicial review", jenes sowohl in den USA als auch hier zu Lande gültige Prinzip, nach dem ein Gremium von nicht gewählten, sondern nur der gemeinschaftlichen Wahrheitsfindung verpflichteten Richtern eine Entscheidung des Parlaments aufheben darf, selbst wenn es damit dem Willen des ganzen Volks zuwiderhandelt. Nicht ohne Augenzwinkern erzählt Dworkin, man habe ihm in früheren Zeiten vorgehalten, er stütze das Prinzip nur deswegen, weil die konkreten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der USA seiner linksliberalen Grundhaltung entgegenkämen. Dieses Argument habe in den letzten zehn Jahren – leider – seine Gültigkeit verloren.

Ich gestehe, dass mich Dworkins monumentales Gedankengebäude fasziniert. Das gilt vor allem für die These, dass Wahrheit schon dadurch – und nur dadurch – zu Stande kommt, dass man ein großes, umfassendes und vor allem widerspruchsfreies Gedankengebäude errichtet. Das erfordert nicht nur Nachdenken im stillen Kämmerlein, sondern intensiven Gedankenaustausch mit anderen. Dworkin hat diese Forderung in ungewöhnlichem Ausmaß erfüllt: Zu einer ersten Version seines Buchs wurde eine ganze Tagung organisiert; die Niederschriften der Vorträge füllen ein ganzes Heft der "Boston University Law Review", und im vorliegenden Buch setzt sich Dworkin auf immerhin 100 Seiten Endnoten mit seinen Kritikern auseinander.

Indem Dworkin die Interpretation und damit eine gewisse Willkür als Argumentationsmittel zulässt, gibt er zumindest ein Stück weit den Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf. Er muss es hinnehmen, dass seine Thesen zu politischen Fragen, die er oft und prononciert geäußert hat, auf Widerspruch oder, schlimmer noch, Desinteresse stoßen, weil eben seine interpretativen Argumente nicht so zwingend sind, wie er das gerne hätte.

Dworkins Position wirkt nicht nur sehr vertraut abendländisch-humanistisch; sie ist auch überaus elitär – nicht in der Grundhaltung, aber in den Auswirkungen. Nur die wenigsten Menschen sind überhaupt fähig und bereit, einen so intensiven und mühseligen Denkprozess auf sich zu nehmen, dass sie im Sinn der "partnerschaftlichen Demokratie" bei politischen Fragen mitreden können. Mancher Richter mag unter dem Anspruch, nicht nur ein akzeptables, sondern das einzig richtige Urteil fällen zu sollen, aufstöhnen. Und nach Dworkins Meinung hat "ein Mensch, der ein langweiliges, konventionelles Leben ohne enge Freundschaften und Herausforderungen führt und die Zeit bis zu seinem Begräbnis einfach absitzt, kein gutes Leben gehabt …, selbst wenn er selbst anderer Auffassung sein sollte und seine Zeit durch und durch genossen hat."

Nicht einmal ein Mensch, der seine freie Zeit mit dem Sammeln von Streichholzschachteln ausfüllt, hat vor Dworkins gestrengen Augen Bestand. Du liebe Güte! Ich sammle exotische geometrische Körper und hätte die größte Mühe, gegenüber dem Streichholzschachtelsammler stichhaltig zu begründen, dass meine Objekte weniger belanglos sind als seine. Ist mein Leben deshalb minderwertig?

Allgemeiner: Was tun, wenn ich nicht bereit bin, mein Leben nach Dworkins Ansprüchen zu gestalten, vor allem wenn ich nicht fähig bin oder wegen großer Mühsal keine Lust habe, mir eine entsprechende Position zu erarbeiten? Dann bliebe mir nur noch, irgendwelchen väterlichen Autoritäten zu folgen – und der Widerwille dagegen zählt zu den härteren Bestandteilen meiner Persönlichkeit.

Trotzdem: Das Buch ist irgendwie faszinierend.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 07/2013

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