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Buchkritik zu »Homo s@piens«

Treffen sich zwei Androiden. Sagt der eine: "Weißt du noch damals, als es noch Menschen gab?" Darauf der andere entrüstet: "Wieso gab? Ich bin ein Mensch!"In den Augen von Ray Kurzweil wäre das kein Witz. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts weicht die Definition von "Mensch" auf – schenkt man den Prognosen des amerikanischen Computerpioniers Glauben.Bislang erhob sich die Frage, was einen Menschen, sein Wesen, seine charakterisierenden Eigenschaften ausmacht, hauptsächlich in der Vergangenheitsform: im Angesicht uralter Knochenfunde. Wegen der rasanten Entwicklung in der Computer- und Nanotechnik werde sich das Problem jedoch schon binnen zwei Generationen völlig neu stellen. Mensch und Maschine würden auf dem bereits eingeschlagenen Weg ihrer Verschmelzung voranschreiten – bis über den Punkt hinaus, wo eine Unterscheidung unmöglich werde zwischen dem durch neuronale Implantate technisch aufgerüsteten Homo sapiens und dem genialen Roboter, der zum Verwechseln ähnliche Eigenschaften an den Tag legt – aber natürlich weit schneller rechnet.Künstliche Gehirne werden uns davon überzeugen, dass sie über einen freien Willen verfügen und eigene spirituelle Erfahrungen machen (siehe auch das Interview "Hirn- und KI-Forschung"). Kurzweil, der Wegweisendes zur rechnergesteuerten Text- und Spracherkennung beigetragen hat, prophezeit die "Vereinigung der Spezies Mensch mit der Computertechnologie, die sie ursprünglich erfunden hat", und interpretiert dies als Meilenstein der Evolutionsgeschichte. Sich selbst verkauft er dabei als Autor mit Auftrag: Beizeiten will er darauf aufmerksam machen, dass unsere Spezies durch eine von ihr selbst ins Leben ge-rufene reproduktionsfähige Kunstmenschenkultur verdrängt werden könnte.Im Gegensatz zu den komplexen Problemen, die eine derartige Vision aufwirft, ist die Logik dahinter denkbar einfach: Die Technik, einst ein entscheidender Selektionsvorteil, der es dem Menschen erlaubte, sich in seiner ökologischen Nische zu behaupten, mutiert zu einem Überlebensrisiko erster Klasse für ihre eigenen Schöpfer.Als Beleg für sein modernes Frankenstein-Szenario, das Kurzweil mit einer ausgedehnten Einführung in Vergangenheit und Gegenwart der Computertechnik garniert, führt er eine Hand voll heuristischer Gesetze an (siehe dazu auch seinen Aufsatz "Die Verschmelzung von Geist und Maschine", Spektrum Spezial 4/1999 "Der High-Tech-Körper"). So hat sich bislang die Rechenleistung pro Geldeinheit etwa im Jahresrhythmus verdoppelt. Extrapoliert man diese vom Intel-Gründer Gordon Moore formulierte Regel in die Zukunft, dann müsste bereits um 2020 ein Rechner mit der Denkleistung eines Menschen zum Preis eines heutigen PCs erhältlich sein. Weitere dreißig Jahre später würde ein handelsüblicher Computer so intelligent sein wie alle menschlichen Gehirne zusammen.Dass die Verkleinerung von Hardware-Elementen zuvor jedoch an ihre physikalischen Grenzen stößt – nämlich dann, wenn Schaltkreise nur noch aus wenigen Atomen bestehen –, irritiert Kurzweil übrigens nicht. Mögliche Auswege erblickt er in Prozessoren, die in allen drei Raumrichtungen verdrahtet sind, sowie neuen Technologien auf der subatomaren Ebene.Trotz oder gerade wegen der mitunter Unbehagen weckenden Zukunftsaussichten liest sich "Homo s@piens" ausgesprochen anregend und hat literarisch einiges mehr zu bieten als ein übliches Sachbuch. Spaßig sind vor allem die Dialoge des Autors mit seiner fiktiven Leserin Molly, die seine Kapitel-Reise in die Zukünfte der Jahre 2009, 2019, 2029 und 2099 als Zeitzeugin aus der kommenden Welt begleitet. Freimütig gibt sie am Ende eines jeden Unterkapitels Einblicke in das Alltagsleben von morgen, etwa in ihre Beziehung zu George, ihrem ehemaligen Haus-Roboter, der durch technische Vervollkommnung irgendwann um das Jahr 2026 zu ihrem dauerhaften Liebes- und Lebenspartner aufsteigt. Von Molly, am Ende der Zukunftsschau technisch bis zur Unsterblichkeit hochgerüstet und folglich längst nicht mehr zur Klasse der "Vorwiegend Originalsubstrat-Menschen" gehörig, erfahren Autor und Leser auch von so skurrilen Dingen wie orga-nisierten Suizidbewegungen, die sich gegen die softwarebasierte Konservierung aller Individuen zur Wehr setzen, oder von zu quasi-menschlichen Intelligenzen weiterentwickelten ehemaligen Haustieren.Was den Science-Fiction-Liebhaber amüsieren wird, droht freilich den seriösen Anspruch des Buches empfindlich zu unterminieren. Der ausdrückliche Dank des Autors an seine Mutter "für ihr begeistertes Interesse an meinen nicht immer voll ausgereiften Ideen, die sie schon früh unterstützt hat", ist auch nicht dazu angetan, wachsende Vorbehalte zu entschärfen.Dennoch: Das Buch gibt wichtige Anstöße für die notwendige Diskussion über Chancen und Risiken von Robotik und Nanotechnik; und in Teilen bietet Kurzweil einfach – Kurzweil. Diese beiden starken Seiten des Werkes vertragen sich nicht besonders gut; aber das kann das positive Gesamturteil ebenso wenig trüben wie kleinere Fahrlässigkeiten der Übersetzer, die etwa aus einer Literaturagentin (literary agent) eine "literarische Agentin" machten oder einen erklärungsbedürftigen, häufig wiederkehrenden Begriff wie "Neoludditen" nicht ins Register aufnahmen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/00

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