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Noch ein Angriff auf den Homo oeconomicus

Der reißerische Untertitel täuscht. Dieses Buch ist eben nicht einer jener Bestseller, die eine neue, "ganz andere" Erklärung für ökonomische Phänomene versprechen, geläufige Vorurteile von der Weltfremdheit der Theoretiker bedienen und dann an Stelle konkreter Gegenentwürfe doch nur unverdautes Faktenwissen und einige Verschwörungstheorien anbieten. George A. Akerlof (Jahrgang&nbp;1940), Professor an der University of California in Berkeley, ist geradezu das Musterbeispiel eines seriösen Wirtschaftswissenschaftlers.

Bekannt wurde er vor allem durch Arbeiten über das Funktionieren von Märkten bei unvollständiger Information, die heute zum Basiswissen jedes Ökonomen gehören. 2001 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis; sein Mitpreisträger Joseph Stiglitz und er gründeten 2009 das von George Soros finanzierte Institute for New Economic Thinking. Seine Fachkollegin Rachel E. Kranton, eine Generation jünger als Akerlof, ist Professorin an der Duke University und hat sich vor allem mit der Übertragung soziologischer Ansätze in die Ökonomie beschäftigt.

Genau zu diesem Thema hatte sie bereits 1995 in einer Kritik an einem Aufsatz Akerlofs ein Defizit der Forschung beklagt. Die Wirtschaftswissenschaft verfüge noch nicht über die notwendigen analytischen Mittel, um das empirische Material zu verwerten, das die soziologische Forschung in den letzten Jahrzehnten bereitgestellt habe. Die Integration dieser Ergebnisse werde ein realistischeres Menschenbild liefern und damit auch zu einer erfolgreicheren Gestaltung von Institutionen und von Wirtschaftspolitik verhelfen. Aus der Kritik erwuchs eine mehrjährige Zusammenarbeit; deren Ergebnisse stellt das vorliegende Buch in populärwissenschaftlicher Form dar.

Zentrale Aussage der neuen Forschungsrichtung namens "Identitätsökonomie": Anders als in der klassischen Wirtschaftswissenschaft dargestellt, lassen sich die Menschen nicht nur von ihren individuellen Vorlieben leiten, sondern ganz wesentlich auch von den Normen des sozialen Umfelds, dem sie sich zugehörig fühlen. Diese beiden Triebkräfte treten gelegentlich in Widerspruch zueinander; dann muss der Mensch abwägen, ob ihm die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse oder die Bestärkung seiner "Identität" durch Erfüllung der Normen wichtiger ist. Der Erklärungsansatz unterscheidet sich grundsätzlich von dem traditionellen, nach dem der Mensch eine Norm nur befolgt, weil ihm ihre Einhaltung einen Nutzen und ihre Nichteinhaltung einen negativen Nutzen – in Form von Strafe – einbringt.

Die Grundaussage der Identitätsökonomie wird niemand bestreiten wollen, auch kein hartgesottener Mainstream-Ökonom. Welchen Erkenntnisgewinn die Ökonomie damit erzielen kann, ist zwar nicht unmittelbar einsichtig; aber die Autoren demonstrieren das durch die Anwendung auf vier verschiedene Teilgebiete. Zwei davon seien durch Beispiele aus dem Buch erläutert:

Aus Spektrum der Wissenschaft 03/2012
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Ökonomen pflegen in der Arbeitswelt traditionell die leistungsabhängige Bezahlung zu empfehlen. Das gestaltet sich in der Praxis häufig schwierig, zum Beispiel weil sich Leistung in Teams schwer individuell zurechnen lässt oder weil die Zielkriterien nicht der komplexen Wirklichkeit entsprechen. Die Identitätsökonomie betont stattdessen die intrinsische Motivation: Man organisiere die Arbeit so, dass die Identifikation der einzelnen Beschäftigten mit den Zielen des Unternehmens gefördert wird.

Nach der klassischen Theorie erzielen bestimmte Schultypen bessere Lernerfolge, weil die Schüler sich von dem Abschluss ein höheres Einkommen versprechen und die Schule sich bessere Lehrer und eine bessere Ausstattung leistet. Dagegen weiß die empirische Bildungsforschung anzuführen, dass verschiedene Schulen, die in dieser Hinsicht vergleichbar sind, höchst unterschiedliche Erfolge erzielen. Nach der Identitätsökonomie kommt es auch hier zuerst darauf an, dass die Schüler (und die Lehrer!) sich mit den Zielen ihrer Schule identifizieren.

Ähnliche Antworten gibt die neue Theorie zu den Themen geschlechtliche Diskriminierung am Arbeitsmarkt und Armut bei ethnischen Minderheiten. Noch hat die Identitätsökonomie eine Außenseiterrolle. Aber die Autoren verweisen zu Recht darauf, dass auch andere Neuerungen in der Wirtschaftswissenschaft, die zu Anfang nicht ernst genommen wurden, heute dort zum Allgemeingut gehören: Markstrukturen jenseits von Monopol und vollständigem Wettbewerb, Marktergebnisse bei unvollständiger Information, individuelles Verhalten jenseits von reiner Rationalität. Um ihrem geistigen Kind zu einem ähnlichen Durchbruch zu verhelfen, geben sie ihm noch ein paar Ratschläge zur zukünftigen Forschung mit auf den Weg: mehr "Beobachtungen des Kleinen", mehr Laborexperimente in der Ökonomie, wie zum BeiBeispiel Reinhard Selten in Bonn und Ernst Fehr in Zürich sie etabliert haben.

Allerdings verbinden sie dieses überzeugende Plädoyer mit einer übermäßigen Skepsis gegenüber statistisch-ökonometrischen Untersuchungen: "Selbst bei einem ausgesprochen blödsinnigen Modell wird es kaum gelingen, seine Milliarden von Spezifikationen alle zu widerlegen." Soweit damit die in den Wirtschaftswissenschaften gelegentlich anzutreffende Strategie gemeint ist, auf statistische Widerlegungen mit neuen Modellvarianten zu reagieren, kann man dem Vorwurf nur zustimmen. Allerdings schießen die Autoren damit über das Ziel hinaus, denn es muss immer beides geben: die Überprüfung theoretisch abgeleiteter Hypothesen und die Bildung von Theorien aus Fallstudien und Einzelbeobachtungen.

Fazit: Akerlof und Kranton präsentieren viele überzeugende Beispiele für die Relevanz von – häufig unausgesprochenen – Normen im sozialen Umfeld. Auf diese Weise stellen sie den überzogenen Anspruch mancher Ökonomen, auch soziale Phänomene auf ökonomische Anreize zurückführen zu können, überzeugend in Frage.

Das theoretische und empirische Material stammt überwiegend aus soziologischen Arbeiten, die bis in die 1960er Jahre zurückreichen und unter Soziologen heute vermutlich zum Allgemeinwissen gehören. Mit der Anwendung in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur betreten die Autoren gleichwohl Neuland – und demonstrieren nebenbei, dass Ökonomen und Verhaltenswissenschaftler, gelegentlichen interdisziplinären Versuchen zum Trotz, seit Jahrzehnten viel zu wenig miteinander reden.

Alles in allem ein mit Gewinn zu lesendes Buch, das auch dem Nichtökonomen nicht allzu viel an Vorkenntnissen abverlangt.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2012

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