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Wilde Kinder erwünscht!

Längst ist es bekannt: Kinder, die gut klettern können, sind auch oft gut in Mathematik, Physik und Biologie. Kindern, denen frühzeitig Gelegenheit gegeben wird, Nähe zu Tieren und Pflanzen aufzubauen, entwickeln Metakompetenzen wie Emotionalität und Empathie, Grundvoraussetzungen für eine soziale und der Nachhaltigkeit verpflichteten Gesellschaftsordnung.

Alles nichts Neues, mag man sich denken, doch in Form eines auf eigenen Erfahrungen beruhenden Aufsatzes durchaus ein Novum. Der Philosoph und Biologe Andreas Weber berichtet als Vater zweier Kinder von Erlebnissen, die ihn – verknüpft mit Erinnerungen aus seiner eigenen Kindheit – zu einem Befürworter von mehr Naturnähe haben werden lassen. In seinem starken Plädoyer "Mehr Matsch" macht er deutlich, wie wichtig eine natürliche Umgebung für die Entfaltung seelischer, körperlicher und geistiger Potenziale des Menschen ist.

Und wie schädlich es ist, wenn Kinder nur noch in einer sterilen und von technischen Geräten wie Computer und Fernseher dominierten Indoor-Umgebung aufwachsen, während Fischbäche und Froschtümpel, Insektenwiesen und Buchenwälder unerreichbar bleiben oder – wie in vielen Nationalparkzentren und Naturkundemuseen heute üblich – lediglich als computeranimierte Welten die unermessliche Vielfalt der belebten und unbelebten Natur virtuell abbilden.

Dem allseits als Entfremdung von der natürlichen Umgebung bekannten Phänomen wird nach wie vor – weder im Kindergarten oder in der Schule noch im Elternhaus – wenig bis gar nichts entgegengesetzt. Stattdessen nehmen psychosomatische Störungen bei Jugendlichen stetig zu. Sogar Depressionen, Angst- und Essstörungen greifen um sich. Schon jedes fünfte Kind in Deutschland soll unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) leiden.

Andreas Weber fragt zu Recht, ob es sich nicht eher um ein Natur-Defizit-Syndrom handelt. Dabei bewegt er sich weit entfernt von einer romantisierenden Sicht auf die Natur. Vielmehr belegen neuere Erkenntnisse der Neurologie und Hirnforschung, was unabdingbar ist für die gesunde Ausbildung einer humanen Persönlichkeit: das Spielen mit und in der Natur.

Du könntest Dich verletzen!

Dem uneingeschränkten Naturerleben, wie wir es aus unserer Kindheit noch kennen, stehen heute oft irrationale Ängste der Erwachsenen entgegen, die den kindlichen Aktionsradius stark beschneiden. Dass Natur aber seit einigen Jahren zunehmend auch als ein Raum betrachtet wird, den man – aus der Angst heraus, man könnte etwas zerstören – besser nicht betreten sollte, ist eine Entwicklung, die sowohl dem behördlichen Naturschutz als auch dem Verbändenaturschutz in Deutschland zu verdanken ist.Naturschutzgebiete ganz dem Menschen zu entziehen ist ebenso falsch wie Naturschutzgebiete zu weiteren Eventlocations einer erlebnishungrigen Gesellschaft auszubauen.

Sprachlich schön verflechtet Weber von Kapitel zu Kapitel Philosophie, Biologie und Psychologie, um zu beweisen, dass Kinder die Natur brauchen. Dabei bedient er sich Freud, Platon und Piaget, beschwört Fantasie und Kreativität und provoziert mit Statements wie "Kinder sind Tiere", "Learning by loving" oder "Fühlen, nicht wissen". Abschließend präsentiert er einen ausführlichen Praxisteil für alle Erwachsenen, die mit Kindern zu tun haben.

Das wilde Denken und wilde Lernen findet sich in dreißig Vorschlägen für die Eltern und in zwanzig Ideen für Lehrer und Erzieher wieder. Auch außerhalb des Praxisteils erhält man viele Anregungen und fühlt sich an die Tage erinnert, in denen man selbst die Natur entdeckt hat, als man noch Kind war – ein wildes Kind wohlgemerkt!

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