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Multiresistente Krankheitserreger: Superkeime aus Pharmafabriken

Schon heute sterben weltweit Hunderttausende jährlich an Infektionen mit multiresistenten Keimen, gegen die kein Antibiotikum wirkt. Doch das ist nur der Anfang. In indischen Flüssen werden seit Jahren Superkeime ausgebrütet.
http://www.youtube.com/watch?v=mBog5xT5Ybk

Warnung! Es ist ratsam, während dieser ARD-Dokumentation nichts zu essen. Nicht wegen ekliger Bilder, die gibt es kaum – sondern weil allein schon der Gedanke an "multiresistente Keime in Abwässern der Pharmaindustrie" schwer im Magen rumort.

Hierzulande kommen uns in diesem Zusammenhang zwar keine Abwässer, sondern eher die so genannten Krankenhauskeime in den Sinn. Sie werden von infizierten Patienten in Kliniken eingeschleppt und können dort wegen mangelnder Hygiene weiterverbreitet werden. Sechs Prozent der Krankenhauskeime, so schätzt man, sind multiresistent, also "immun" gegen gängige Antibiotika. Zigtausend Todesfälle jährlich allein in Deutschland sind die Folge. Diese Dokumentation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung nimmt nun aber eine weniger bekannte Quelle solcher Superkeime in den Fokus: Flüsse in Indien, die von dortigen Pharmaherstellern verseucht werden und ihre gefährliche Fracht in alle Welt tragen.

Im Alltag der meisten von uns spielt eine solche Bedrohung (noch) keine Rolle. Allenfalls erinnern wir uns an die Warnung unseres Hausarztes, verschriebene Antibiotika auf jeden Fall aufzubrauchen, "damit keine Resistenzen entstehen". Wer sich daran hält und die Mittel überdies nur dann nimmt, wenn sie wirklich nötig erscheinen, kann sich also beruhigt zurücklehnen – er schadet dann weder sich selbst noch anderen, auf die er seine Erreger möglicherweise überträgt. Darüber hinaus sind Antibiotika in Deutschland ohnehin nicht frei verkäuflich, und nicht alle Ärzte verschreiben sie so freigiebig wie ihre sorgloseren Kollegen. Also alles paletti?

Wer aus dieser Dokumentation erfährt, welche Bakterien-Cocktails die indische Pharmaindustrie in die freie Wildbahn entlässt, dem wird aber klar: Ob wir selbst ein Antibiotikum zu Ende nehmen oder nicht, erscheint angesichts der gewaltigen Bedrohung eine Lappalie. Indien produziert heute Antibiotika für die ganze Welt, konkurriert dabei aber in einem globalen Preiskampf mit weiteren großen Pharmaherstellern. Und was ist einfacher, um Kosten zu vermeiden, als Abwässer ungeklärt in den nächstbesten Fluss zu leiten?

Wegen des Verdachts, dass Produzenten im indischen Hyderabad genau so vorgehen, hatten die Fernsehreporter den Tropenmediziner Christoph Lübbert von der Uni Leipzig dorthin eingeladen, um Proben zu nehmen und sie anschließend in Deutschland zu analysieren. Das Ergebnis: Alle Proben strotzten vor Antibiotika – und je höher deren Konzentration, um so mehr multiresistente Keime schwammen in der Probe.

Noch ist es die indische Bevölkerung, die am meisten unter diesem Skandal leidet. Jedes der jährlich 60.000 toten Neugeborenen, deren Schicksal durch multiresistente Keime besiegelt wurde, bedeutet für die Familien in dem Land eine Tragödie. Die Dokumentation verbindet die aufwändige Suche nach den Erregern in Indien und deren Analyse in Deutschland mit zwei Einzelschicksalen: Der im Film vorgestellte deutsche Patient überlebt eine Wundinfektion, die er sich in Thailand zugezogen hat – der indische Patient verstirbt an einem multiresistenten Keim.

Immer wieder berichten auch andere Medien über Aufsehen erregende Fälle. Im Sommer 2016 beispielsweise kam eine Patientin aus dem US-Bundesstaat Nevada mit einer hartnäckigen bakteriellen Infektion ins Krankenhaus. Zuvor war sie in Indien wegen eines Knochenbruchs behandelt worden. Keines der in den USA zugelassenen Antibiotika schlug an, die Frau starb. Selbst Experten waren schockiert.

Reicht es aber aus, Indien zu meiden? Mitnichten. Im Zeitalter von Fernreisen und globalem Handel können solche Keime schnell Kontinente und Weltmeere überspringen. Lübbert fand bei mehr als 70 Prozent der von ihm untersuchten Indienreisenden hochgefährliche Exemplare, die sich hier weiterverbreiten können.

Experten kommen allerdings zu unterschiedlichen Einschätzungen der tatsächlichen Bedrohung. Der Deutsche Ethikrat sah 2016 allenfalls eine "Zeit für Reflexion" gekommen: Resistenzen seien natürliche Phänomene, die es seit Jahrmilliarden gebe. Die Weltgesundheitsorganisation dagegen prägte bereits 2014 den Begriff des "post-antibiotischen Zeitalters". Auf diese düstere Zukunft, in der Antibiotika unwirksam sind und Millionen Menschen an banalen Infekten sterben könnten, bewege sich die Welt zu.

In der Gesellschaft ist die Botschaft jedenfalls noch nicht angekommen. Ein kleiner Vorgeschmack? Würden Antibiotika, wie sie heute routinemäßig bei Operationen und Chemotherapien eingesetzt werden, tatsächlich wirkungslos, könnten viele Krebskranke nicht mehr behandelt werden und wären selbst einfache Eingriffe wie eine Blinddarm-OP mit einem erheblichen Sterberisiko verbunden. Übrigens: Selbst der vermeintlich gute Ratschlag, Antibiotika "aufzubrauchen", widerspricht mittlerweile der Studienlage. Wer sie nach der Genesung weiter schluckt, begünstigt sogar die Entstehung resistenter Stämme.

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