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Paläogenetik: Wissenswertes über Europa, Sex und Neandertaler

Den ersten Europäer kennt man heute viel besser als noch vor zwei Jahren: Die Nachrichten aus der Archäologie, vor allem aber aus der Paläogenetik überschlugen sich zuletzt und vervollständigen unser Bild von der Wanderung des modernen Menschen auf unseren Kontinent vor 45 000 Jahren und sein Zusammentreffen mit den Neandertalern. Die alteingesessenen Europäer verschwanden irgendwann für immer - nicht aber ihre Spuren in unseren Genen.
Neandertaler

Sex der Subspezies – auch im alten Europa?

Seit einiger Zeit steht nach Genanalysen fest: Moderner Homo sapiens und Neandertaler hatten gelegentliche Gelegenheiten genutzt, um Nachwuchs zu produzieren. Sehr wahrscheinlich sind sich die beiden Unterarten schon früh begegnet, als moderne Menschen von Afrika aus die Welt zu erobern begannen: Vor 50 000 bis 60 000 Jahren paarten sie sich im Nahen Osten. Und bereits vor dem gerade erst publizierten endgültigen Beweis lag schon nahe, dass Homo sapiens neanderthalensis und Homo sapiens sapiens einander auch in Europa sympathisch fanden. Tatsächlich entstand das letzte gemeinsame Kind wohl vor erstaunlich kurzer Zeit: Gerade einmal 40 000 Jahre alt sind die in Rumänien gefundenen Überreste eines Mannes der "Oase"-Fundstelle, dessen Gene einen Neandertaler-Urururgroßvater vor vier bis sechs Generationen verraten.

Wo sind die Nachkommen heute?

Neandertalergene finden sich in fast allen heutigen Menschen – die Familienlinie des uralten Mischrumänen aus "Oase" allerdings ist hier ausgestorben. Das liegt sicherlich daran, dass die Pioniere der ersten Einwanderungswelle, die Europa am Ende der Eiszeit allmählich wieder besiedelten, später von anderen Einwanderern verdrängt wurden.

Neandertalergene brachten allerdings auch diese Neuankömmlinge mit. Insgesamt dürfte die wiederholte Umwälzung des europäischen Genpools dazu beigetragen haben, dass heutige Europäer nicht größere Neandertalergenanteile tragen als etwa Asiaten. Vielleicht sind die nach Asien abgewanderten Menschengruppen sogar häufiger auf Neandertalerpopulationen gestoßen? So bleiben nur die alteingesessenen heutigen Afrikaner, die fast gar keine Neandertalergenbeimischung haben: Nach Afrika hat es der Neandertaler nie in nennenswerter Zahl geschafft, und nur wenige Menschen mit Neandertalergenen sind nach dort zurückmigriert.

Mehr als bloß Sex: Kulturaustausch mit dem Neandertaler

Einige Forscher vermuten nach Ausgrabungen der jüngsten und letzten verbliebenen Neandertaler in Europa, dass diese sich Tricks vom modernen Menschen abgeschaut haben – etwa bei der Werkzeugproduktion, aber auch bei der Schmuckgestaltung und der damit vielleicht in Verbindung stehenden Symbolik. Forscher wie Chris Stringer vom Natural History Museum in London vermuten sogar, dass Neandertaler überhaupt erst durch den Kontakt und die genetische Vermischung mit modernen Menschen die Fähigkeit erworben haben, solche kulturellen und handwerklichen Sprünge zu machen. Eine solche Korrelation von genetischer und kultureller Evolution könnte sich in der Zukunft womöglich belegen lassen, hofft der Forscher optimistisch.

War der moderne Mensch dem alten Neandertaler überlegen?

Der Neandertaler ist ausgestorben, der moderne Mensch nicht – naheliegend, dass Letzteres etwas mit Ersterem zu tun haben könnte. Über Gründe spekuliert man allerdings kontrovers: Vielleicht waren die Neandertaler schlechter an Klimaveränderungen angepasst, vielleicht rafften vom Neuankömmling eingeschleppte Krankheiten sie dahin, vielleicht überlebten moderne Menschen sogar deshalb, weil sie allein Wölfe zum besten Freund und hilfreichen Jagdgefährten gezähmt hatten.

Wer ist der Urgroßvater der Europäer?

Der Neandertaler-Urururgroßvater aus dem nacheiszeitlichen Rumänien hat im modernen Europa also keinen direkten Nachkommen mehr – aber von welchen Linien ist er denn nun ersetzt worden? Zu den Kandidaten zählt der Klan eines vor 37 000 Jahren gestorbenen, als "Kostenki-14"-Fund bekannten, dunkelhäutigen Menschen, dessen Überreste schon 1954 in einer Höhle in Westrussland gefunden wurden. Die Gene dieses derzeit ältesten direkten Vorfahren sind denen der heutigen Europäer ähnlicher als denen moderner Asiaten.

Von wo und wann kamen die ersten Europäer?

Woher die heute ausgestorbenen ersten Ureuropäer kamen, also die Vorgänger der zuwandernden Kostenki-14-Sippschaft, ist umstritten. Nahe läge, dass sie aus Afrika kommend um das Mittelmeer herum wanderten und über Anatolien Europa erreichten. Tatsächlich finden sich in und um diesen Korridor durch die Levante Steinwerkzeug- und Muschelschmuck-Artefakte aus passender Zeit, die denen ähneln, die man an den frühesten archäologischen Fundstellen moderner Menschen in Europa entdeckte. Solche Belege tauchten etwa im Libanon auf, wo Menschen vor 45 000 Jahren ähnlich lebten wie der oben erwähnte "Oase"-Paläorumäne. Möglich ist aber auch, dass Menschen einen weiten Bogen nach Osten schlugen, bevor sie dann von dort westwärts nach Europa wanderten. Eine erkennbare genetische Spur haben sie nicht hinterlassen, aber vielleicht ähnelten sie in ihrem Erbgut dem merkwürdigen 45 000 Jahre alten Individuum von Ust'-Ishim aus Sibirien, dessen Ahnen zu einer solchen Auswanderungswelle aus Afrika über Asien nach Europa gehört haben könnten. Diese Menschen sind aber weder mit den heutigen Europäern noch mit den heutigen Asiaten verwandt. Vom Schicksal der ersten Europäer-Linien wissen wir daher wenig.

Es gab immer neue Wellen von Euromigranten

Zusammengefasst: Die derzeit älteste verbliebene und nachweislich altsteinzeitliche Linie in Europa – jene von Kostenki-14 – hat genetisch weder viel mit dem 40 000 Jahre alten "Oase"-Ur-Rumänen noch mit dem 5000 Jahre älteren Ust'-Ishim-Fund aus Sibirien zu tun. Und auch die Nachkommen des westrussischen Fundes aus Kostenki mit ihren typischen Gensignaturen (der Y-chromosomalen "Haplogruppe C") sind hier und heute zwar noch zu finden, zugleich aber fast bedeutungslos selten. Das liegt daran, dass mindestens zwei, eher aber drei oder vier große Wellen neuer Einwanderer gen Europa zogen und Siedler sowie Kostenki-Gene ersetzten. Nach mehreren Jäger-und-Sammler-Gruppen der Altsteinzeit – die heute an ihren typischen Werkzeugen und, soweit untersucht, auch an ihren Genen zu unterscheiden sind – kamen irgendwann die ersten Bauern aus dem Nahen Osten. Und verschwanden prompt wieder, um neuen Gruppen Platz zu machen, die dann von wieder neu gemischten Einwanderern aus West und Ost verdrängt wurden. All dies ereignete sich wohlgemerkt noch bevor die vermeintlichen ersten "Indoeuropäer" vordrangen, lange vor der Bronzezeit und noch länger vor den aus der Geschichtsschreibung bekannten Perioden von Völkerwanderung bis Hunneneinfall, die natürlich auch noch einmal die Genkarte Europas veränderten. In diesem Durcheinander den allerersten Europäern nachzuspüren, bleibt eine knifflige Aufgabe.

Der Artikel ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Originals "Europe's first humans: What scientists do and don't know" von Ewen Callaway, erschienen in "Nature".

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