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Lexikon der Neurowissenschaft: Autismus

Autismus m [von griech. autos = selbst], E autism, seltene (geschätzte Häufigkeit 1:1000-1:10000), schwere Störung der Verhaltenssteuerung, die meist im Säuglings- oder Kleinkindalter beginnt und sich über alle weiteren Entwicklungsstufen fortsetzt. Die Bezeichnung wurde zuerst von dem Psychiater Leo Kanner in den 1940er Jahren verwendet, um Kinder zu beschreiben, die übermäßig zurückgezogen und mit sich selbst beschäftigt erscheinen. Das Syndrom erscheint meist vor einem Alter von etwa zweieinhalb Jahren; die ersten Zeichen sind dabei jedoch sehr subtil. Jungen sind drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Autistische Symptome können jedoch auch bei schizophrenen Erwachsenen (Schizophrenie) auftreten. – Der frühkindliche Autismus nach Kanner, auch milieubedingter frühkindlicher Autismus genannt, bildet ein eigenes Syndrom kindlicher Verhaltensstörungen. Es handelt sich um eine Einschränkung des Verhaltens auf den eigenen Körper und die eigenen Motive bei völligem Ausschluß von Kontakten und Interaktionen im sozialen Kontext. Häufig treten bedeutungslose Echolalie und rhythmische Körperbewegungen auf. Abnorme Reaktionen auf Sinnesreize, fehlende Erregungskontrolle, Neigung zur Selbstbeschädigung, geringe intellektuelle Entwicklung, mitunter gekoppelt mit Inseln normaler, wenn nicht sogar außergewöhnlicher Fähigkeiten (Ethische Probleme in der Neurowissenschaft; Zusatzinfo 2), und unauflösliche Bindungen an bestimmte Umgebungen, Personen und Verhaltensrituale runden das Gesamtbild des kindlichen Autismus ab. – Die zugrundeliegenden Ursachen sind zweifelsohne unterschiedlich, teilweise noch unbekannt. Eine erkannte Problematik ist der frühkindliche Konflikt zwischen Kontaktbedürfnis und Kontaktangst bei der Begegnung mit Erwachsenen, der sich in einer starken Blickvermeidung äußert. Die diesbezüglichen Untersuchung des frühkindlichen Autismus durch die Ethologen Elisabeth und Niko Tinbergen ( siehe Zusatzinfo ) haben gezeigt, daß sich die verhaltensbiologische Denkweise und die Methoden der vergleichenden Verhaltensforschung auch auf das Verhalten des menschlichen Kindes anwenden lassen und zu neuen, erfolgreichen Therapien anregen können. Neuere Untersuchungen mittels Kernspinresonanztomographie zeigten strukturelle Abnormalitäten im Gehirn von autistischen Personen, vor allem im Kleinhirn und im limbischen System, die in der frühen embryonalen Hirnentwicklung entstanden sein könnten (Fehlbildungen des Nervensystems). Ferner wurde ein Mangel an Purkinje-Zellen sowie ein Überschuß an Serotonin festgestellt. Es wird auch die Beteiligung genetischer Voraussetzungen an dieser Krankheit diskutiert. Während im Bevölkerungsdurchschnitt von 10000 Kindern 2 bis 4 vom Autismus betroffen sind, ist dies bei Geschwistern autistischer Kinder 75mal häufiger der Fall. Schließlich besteht möglicherweise auch ein Zusammenhang mit Virusinfektionen: Im Blut autistischer Kinder, in denen Antikörper gegen das Masernvirus gefunden wurden, waren auch erhöhte Mengen eines Autoantikörpers nachweisbar, der sich gegen eigenes Hirngewebe, vor allem Myelin richtet. Man könnte nun spekulieren, daß der Masernerreger eine Autoimmunreaktion auslösen kann, die sich negativ auf die Entwicklung des Myelins auswirkt und dadurch die Entstehung des Autismus begünstigt. β-Casomorphine.

Familienuntersuchungen weisen darauf hin, daß Autismus auch genetisch bedingt ist. Neuere Untersuchungen ergaben zusätzlich Hinweise für eine genomische Prägung bei der Vererbung von Autismus: Eine bestimmte Gen-Region auf Chromosom 7 beispielsweise scheint nur dann das Risiko für Autismus zu erhöhen, wenn es vom Vater abstammt. – Messungen der Gehirnaktivität von autistischen, geistig behinderten und gesunden Kindern lassen vermuten, daß autistische Kinder eine selektive Störung der Gesichtererkennung aufweisen. Sie reagieren im Unterschied zu den geistig zurückgebliebenden und gesunden Kindern auf das Gesicht der eigenen Mutter nicht anders als auf andere Gesichter. Dagegen erkennen sie durchaus z.B. bekanntes Spielzeug, so daß es sich nicht um eine unspezifische Störung handelt.

Autismus

Das Wissen um die Zusammenhänge beim Drohstarren sowie mehrere Schlüsselbeobachtungen zur Blickvermeidung brachten N. Tinbergen dazu, eine Erklärung für die Unansprechbarkeit und absolute Kontaktverweigerung des autistischen Kindes zu erarbeiten. Für das autistische Kind überwiegen beim Angeblicktwerden nicht die bindenden Signale des Blicks, sondern seine abschreckenden bedrohlichen Anteile. Die Blickvermeidung dient dazu, mitmenschliche Kontakte, vor denen das Kind Angst hat, zu unterbinden. Es entwickelt sich eine angstvolle Abkehr von den Mitmenschen, infolgedessen aber naturgemäß auch ein immer stärker werdendes Bedürfnis nach der mehr und mehr entbehrten mitmenschlichen Nähe. Autistische Kinder signalisieren neben ihrer durch Blickvermeidung eindeutig gezeigten Kontaktabwehr auch eindeutig erkennbare Zeichen einer starken Kontaktbereitschaft. Die beiden dauernd aktivierten gegenteiligen und unvereinbaren Verhaltenstendenzen – Kontaktwunsch und Kontaktangst – führen zu einem inneren Dauerkonflikt und dieser wiederum zur chronischen Übererregung, zu inneren Blockierungen, zwanghaftem Verhalten und zur Einschränkung auf eine verarmte, enge Eigenwelt, um der vor allem Neuen auftretenden Angst zu entgehen.

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