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Lexikon der Neurowissenschaft: Bewußtsein

Essay

Gerhard Roth

Bewußtsein

Bewußtsein (E consciousness) umfaßt alle Zustände, die von einem Individuum erlebt werden. Die Frage nach dem Wesen, der Herkunft und der Funktion von Bewußtsein und Geist hat die Menschen beschäftigt, seit es Philosophie und Wissenschaften gibt; entsprechend unterscheiden sich die Antworten auf diese Frage zum Teil radikal voneinander. Traditionell werden Bewußtsein und Geist als etwas angesehen, das sich von den Phänomenen und Geschehnissen der "materiellen", naturwissenschaftlich erfaßbaren Welt wesensmäßig unterscheidet (ontologischer Dualismus); danach entzieht sich Bewußtsein grundsätzlich der Erklärung durch die empirischen Wissenschaften. Für Andere entspringt das Bewußtsein zwar den Hirnfunktionen und existiert nicht ohne sie, jedoch werden für solche Agnostiker die Methoden und Modelle der Hirnforschung niemals ausreichen, um das "Geheimnis" des Bewußtseins zu ergründen. Insbesondere das ausschließlich private Erleben von Bewußtsein wird hierbei als unüberwindliches Hindernis angesehen. Andere wiederum weisen darauf hin, daß neben dem rein subjektiven Erleben zumindest beim Menschen 1) die sprachliche Berichtbarkeit zum Bewußtsein gehört, 2) unterschiedliche Bewußtseinszustände anhand unterschiedlicher Verhaltensleistungen erkannt werden können und 3) Störungen unterschiedlicher Hirnfunktionen zu charakteristischen Störungen kognitiver, emotionaler und motorischer Leistungen führen. Auf diesen drei objektiv zugänglichen Aspekten von Bewußtsein baut die empirische Bewußtseinsforschung auf. Sie hat neben der Verfeinerung kognitionspsychologischer und neuropsychologischer Testverfahren vor allem durch die Entwicklung moderner Bildgebungstechniken (vornehmlich Positronenemissionstomographie, Kernspinresonanztomographie und Magnetencephalographie) Fortschritte erlebt. Diese Techniken erlauben es, die Aktivität des intakten menschlichen Gehirns mit guter räumlicher und zeitlicher Auflösung zu registrieren.

Phänomenologie des Bewußtseins

Bewußtsein tritt in einer Vielzahl unterschiedlicher Zustände auf. Die allgemeinste Form von Bewußtsein ist der Zustand der Wachheit oder Vigilanz. Dem stehen Zustände verringerten Bewußtseins wie natürlich reduzierte Bewußtheit ("Dösen"), Somnolenz (Benommenheit), Stupor (Antriebslosigkeit) und die verschiedenen Stufen des Koma gegenüber. Wachheit ist meist mit konkreten Inhalten verbunden. Diese können sein: a) Sinneswahrnehmungen von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper, b) mentale Zustände und Tätigkeiten wie Denken, Vorstellen und Erinnern, c) Emotionen, Affekte, Bedürfniszustände, d) Erleben der eigenen Identität und Kontinuität, e) "Meinigkeit" des eigenen Körpers, f) Autorenschaft und Kontrolle der eigenen Handlungen und mentalen Akte, g) Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit, h) Realitätscharakter von Erlebtem und Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung. Einige dieser Zustände, z.B. die unter d) bis h) genannten, bilden zusammen mit allgemeiner Wachheit eine Art "Hintergrundbewußtsein", vor dem die unter a) bis c) genannten spezielleren Bewußteinszustände mit wechselnden Inhalten und Intensitäten und in wechselnder Kombination auftreten. Diese verschiedenen Inhalte von Bewußtsein können nach Schädigungen bestimmter Gehirnteile, insbesondere solcher der assoziativen Großhirnrinde (s.u.), mehr oder weniger unabhängig voneinander ausfallen. So gibt es Patienten, die völlig normale geistige Leistungen vollbringen, jedoch der Meinung sind, daß der sie umgebende Körper nicht der ihre ist bzw. daß bestimmte Körperteile nicht zu ihnen gehören (Asomatognosie). Andere wiederum besitzen bei sonst intakten Bewußtseinsfunktionen keine autobiographische Identität. Dies deutet auf eine "modulare", d.h. räumlich und funktional getrennte Organisation der Bewußtseinsinhalte hin. Aufmerksamkeit ist eine Steigerung konkreter Bewußtseinszustände, die mit erhöhten und gleichzeitig räumlich, zeitlich und inhaltlich eingeschränkten ("fokussierten") Sinnesleistungen oder mentalen Zuständen ("Konzentration") einhergeht. Der Fokus der Aufmerksamkeit kann durch auffällige oder unerwartete äußere Ereignisse, durch innere Erwartungen oder "willentlich" kontrolliert werden. Zu abnormen Bewußtseinszuständen zählen Agnosien, d.h. die teilweise oder gänzliche Unfähigkeit, bestimmte Wahrnehmungsinhalte bewußt wahrzunehmen (z.B. von Gesichtern, Farben, Objektbewegungen), Neglect bzw. Hemineglect, d.h. das Nichtbeachten von Teilen der Umwelt oder des eigenen Körpers (z.B. der linken Gesichts- oder Körperhälfte), Anosognosie, d.h. das Leugnen von Fehlleistungen und Erkrankungen im Bereich der Wahrnehmung, des Körperschemas und der Handlungen, Blindsehen (E blindsight, der Zustand, daß Patienten bestimmte visuell gesteuerte Aufgaben vollbringen können, ohne sich dessen bewußt zu sein), Bewußtseinsspaltungen bei Schizophrenen (Schizophrenie) oder bei Patienten mit durchtrenntem Balken (Corpus callosum, s.u.), bei denen die linke und die rechte Großhirnhemisphäre unterschiedliche Bewußtseinszustände haben können.
Eine besondere Rolle beim Bewußtsein spielt das Arbeitsgedächtnis. Es hält für wenige Sekunden einen bestimmten Teil der Wahrnehmungen und damit verbundener Gedächtnisinhalte und Vorstellungen im Bewußtsein und konstituiert damit den charakteristischen "Strom des Bewußtseins". Man nimmt an, daß das Arbeitsgedächtnis Zugriff zu den unterschiedlichen, in aller Regel unbewußt arbeitenden Sinnes-, Gedächtnis- und Handlungssteuerungssystemen hat und nach bestimmten Kriterien Informationen aus diesen Systemen "einlädt". Diese werden dann aktuell bewußt. Das Arbeitsgedächtnis ist stark modularisiert, d.h., wir können verschiedene Dinge um so besser für kurze Zeit in unserem Gedächtnis behalten, je unähnlicher sie in ihren physikalischen Eigenschaften und Inhalten sind. Generell ist das Arbeitsbewußtsein inhaltlich und zeitlich sowie in seiner Verarbeitungsgeschwindigkeit stark begrenzt – im Gegensatz zum Langzeitgedächtnis bzw. zu den sehr schnell arbeitenden unbewußten Sinnessystemen. Das Arbeitsgedächtnis ist offenbar für die subjektiv empfundene "Enge des Bewußtseins" verantwortlich. Umstritten ist, ob diese Enge und Beschränkung aus der begrenzten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses selbst herrührt oder aus der zeitlichen und/oder inhaltlichen Beschränktheit des Zugriffs und Abrufens von Informationen aus den Sinnes-, Gedächtnis- und Handlungssteuerungssystemen. Viele Kognitionsforscher sehen im Bewußtsein eine Instanz, die vor allem der Handlungsplanung dient. Bewußtsein ist demnach ein "internes Weltmodell", das gedankliches Probehandeln ermöglicht; in diesem Zusammenhang wird auch die Entstehung des Ich als eines "virtuellen Akteurs" gesehen.

Funktionaler Kontext von Bewußtseinszuständen

Idealtypisch werden beim Menschen zwei Arten der Informationsverarbeitung unterschieden, ein bewußt und ein unbewußt ablaufendes System. Das erste System, auch explizites oder deklaratives System genannt, arbeitet überwiegend seriell, langsam (d.h. im Bereich von Sekunden und Minuten) und "mühevoll", ist in seiner Kapazität beschränkt und fehleranfällig, seine Informationsverarbeitung ist "tief", d.h. auf die Verarbeitung komplexer und bedeutungshafter Inhalte ausgerichtet, es ist flexibel und kann entsprechend neue oder neuartige Leistungen vollbringen. Es ist beim Menschen eng mit der Fähigkeit zum sprachlichen Bericht gebunden. Das zweite, unbewußt ablaufende System, auch implizites, prozedurales oder nicht-deklaratives System, genannt, ist in seiner Kapazität nahezu unbeschränkt, arbeitet überwiegend parallel, schnell und weitgehend fehlerfrei. Es ist in seiner Informationsverarbeitung "flach", d.h., es verarbeitet Informationen anhand einfacher Merkmale oder Bedeutungen und ist relativ unflexibel bzw. variiert innerhalb vorgegebener Alternativen. Es ist außerdem nicht an Sprache gebunden bzw. einer sprachlich-bewußten Beschreibung gar nicht zugänglich. Hierunter fällt alles, was mit "implizitem Lernen" zu tun hat, mit Objektidentifikation anhand äußerlicher Merkmale, Einüben durch langwierige Praxis, unbewußter Imitation, Gruppierung nach Ähnlichkeiten, Erfassen einfacher Regeln. Dies geschieht nach "flacher" Informationsverarbeitung unterhalb der Schwelle der Bedeutungserfassung. Zwischen beiden Systemen bestehen beliebig feine Übergänge. Die Leistungen und Fertigkeiten aus dem expliziten System "sinken" gewöhnlich mit zunehmender Vertrautheit und Übung in das implizite System "ab", können mit entsprechendem Aufwand jedoch zumindest teilweise wieder explizit gemacht werden.

Hirnkorrelate von Bewußtsein

Neurobiologie und Hirnforschung sind in der Lage, die verschiedenen Bewußtseinszustände und bewußten geistigen Leistungen der Aktivität unterschiedlicher Hirnzentren zuzuordnen. Dabei zeigt sich, daß am Entstehen von Bewußtsein stets viele Zentren mitwirken, die über das ganze Gehirn verteilt sind. Es gibt kein "oberstes Bewußtseinszentrum". Geschehnisse können uns nur dann bewußt werden, wenn sie von Aktivität der sog. assoziativen Großhirnrinde begleitet sind, d.h. dem hinteren und unteren Scheitellappen (parietaler Cortex), dem mittleren und unteren Schläfenlappen (temporaler Cortex) und dem Stirnlappen (Frontallappen). Alles, was nicht in der assoziativen Großhirnrinde abläuft, ist uns nicht bewußt. Eine Ausnahme macht eventuell die Schmerzempfindung ("thalamischer Schmerz"). Der hintere und untere Scheitellappen hat linksseitig mit symbolisch-analytischer Informationsverarbeitung zu tun, mit Mathematik, Sprache und der Bedeutung von Zeichnungen und Symbolen; der rechtsseitige Scheitellappen ist befaßt mit realer und vorgestellter räumlicher Orientierung, mit räumlicher Aufmerksamkeit und dem Perspektivwechsel. Im Scheitellappen ist auch unser Körperschema und die Verortung unseres Körpers im Raum lokalisiert; auch trägt er zur Planung und Vorbereitung von Bewegungen bei. Der obere und mittlere Schläfenlappen umfaßt komplexe auditorische Wahrnehmung (auditorisches System) einschließlich des (meist links angesiedelten) Wernicke-Sprachzentrums (Sprachzentren), das wichtig für das Erfassen von Wort- und Sprachbedeutung sowie die Produktion bedeutungshafter geschriebener oder gesprochener Sprache ist. Der untere Schläfenlappen (IT) ist wichtig für komplexe visuelle Informationsverarbeitung nicht-räumlicher Art, das Erfassen der Bedeutung und korrekten Interpretation von Objekten, Gesichtern usw. sowie von ganzen Szenen. Der präfrontale Cortex (PFC) ist in seinem oberen, dorsolateralen Teil vornehmlich ausgerichtet auf Ereignisse in der Außenwelt, insbesondere hinsichtlich deren zeitlicher Reihenfolge und deren Relevanz. Dort befindet sich auch das Arbeitsgedächtnis (s.o.). Der untere, orbitofrontale PFC hat demgegenüber zu tun mit Sozialverhalten, ethischen Überlegungen, divergentem Denken, Risikoabschätzung, Einschätzung der Konsequenzen eigenen Verhaltens, Gefühlsleben und emotionaler Kontrolle des Verhaltens.
Bei Aufmerksamkeit und anderen von Bewußtsein begleiteten kognitiven Zuständen wie Fehlerkorrektur und Handlungsentscheidung, aber auch bei der Schmerzempfindung (Schmerz) spielt der an der Innenseite der Großhirnrinde liegende Gyrus cinguli eine wichtige Rolle. Er ist ein Bindeglied zwischen der übrigen Großhirnrinde und den an der Entstehung von Bewußtsein beteiligten subcorticalen Zentren im Endhirn selbst (vor allem Hippocampus und Amygdala), im Zwischenhirn (Diencephalon; intralaminare Kerne, Nucleus reticularis thalami) sowie im Hirnstamm (Formatio reticularis, ventrales tegmentales Areal). Obwohl für die Entstehung von Bewußtsein unabdingbar, sind die Aktivitäten dieser Zentren grundsätzlich nicht bewußtseinsfähig (eventuell mit Ausnahme thalamischer Kerne bei Schmerzempfindungen).
Die vom verlängerten Mark über die Brücke bis zum vorderen Mittelhirn (Mesencephalon) sich hinziehende Formatio reticularis kontrolliert Atmung und Blutkreislauf, Schlafen und Wachen sowie Bewußtsein und Aufmerksamkeit. Schon kleine Verletzungen führen zu tiefer Bewußtlosigkeit. Sie gliedert sich in drei Längsreihen kompakter Zellgruppen (Kerne). Kerne der medialen Kerngruppe bilden das aufsteigende aktivierende System. Sie erhöhen über Umschaltstellen im Thalamus (intralaminäre Kerne) den generellen Erregungszustand der Großhirnrinde und damit unseren Wachheitszustand. Die mediane Kerngruppe enthält den serotonergen dorsalen Raphekern mit Verbindungen zur Amygdala, zum Hippocampus sowie zu den assoziativen Bereichen der Großhirnrinde. In der lateralen Kerngruppe liegt der noradrenerge Locus coeruleus. Er weist dieselben Verbindungen mit Bereichen des Zwischenhirns und des Endhirns auf wie der dorsale Raphekern. Es wird angenommen, daß der dorsale Raphekern und der Locus coeruleus die generelle Aktivierungstätigkeit der medialen Kerngruppe kontrollieren. Eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Aufmerksamkeitsbewußtsein, des Kurzzeitgedächtnisses und des Erfassens bedeutungshafter Ereignisse spielt das basale Vorderhirn (vor allem der Nucleus basalis Meynert). Mit seinen cholinergen Projektionsfasern ist es in der Lage, die Aktivität umgrenzter Regionen der Hirnrinde gezielt zu verstärken oder abzuschwächen. Das basale Vorderhirn hat enge Beziehungen zur Formatio reticularis sowie zu limbischen Zentren wie Hippocampus und Amygdala. Manche Autoren schreiben dem Nucleus reticularis thalami ebenfalls eine bedeutsame Rolle bei der Steuerung des Aufmerksamkeitsbewußtseins zu.
Die Hippocampusformation (Ammonshorn, Subiculum, Gyrus dentatus, entorhinale Rinde) liegt auf der Innenseite des Schläfenlappens und wird als Organisator des Wissensgedächtnisses (deklaratives Gedächtnis) angesehen, dessen Inhalte in der Großhirnrinde niedergelegt sind, und zwar an unterschiedlichen Orten je nach Art und Inhalt des Gedächtnisses. Offenbar legt die Hippocampusformation fest, wo in der Großhirnrinde was in welchem Kontext beim Lernen abgespeichert wird. Sie ist aber selbst nicht der Ort des Gedächtnisses und wird auch nicht beim "Abruf" von Wissen benötigt, das gut eingeprägt ist. Fertigkeiten, d.h. die Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses, werden, wenn sie einmal beherrscht werden, nicht durch eine Zerstörung des Hippocampus beeinträchtigt. Offenbar sind diese im motorischen Cortex oder subcortical in den Basalkernen (Corpus striatum, Pallidum), der Brücke (Pons) und im Kleinhirn angesiedelt.
Das Abspeichern und das bewußte Abrufen von Gedächtnisinhalten hängen wesentlich von emotionalen Begleitumständen ab. Alles, was wir erleben und tun, wird in Bezug auf "positiv" und "negativ" bewertet. Die Amygdala auf der Innenseite des Schläfenlappens ist der Organisator bzw. der Speicherort vornehmlich negativer Bewertungen, der Nucleus accumbens als Teil der Basalkerne und das ventrale tegmentale Areal des Mittelhirns sind die Organisatoren der positiven Bewertungen; beide bilden wesentliche Teile des "emotionalen Gedächtnisses". Bei der Bewußtmachung von Ereignissen werden Inhalte dieses emotionalen Gedächtnisses mit aufgerufen, und wir erleben sie als Gefühle (Emotionen).
Bewußtsein ist einerseits an eine hinreichende Versorgung der Großhirnrinde mit Sauerstoff und Zucker (Glucose) und andererseits an eine ausreichend starke Aktivierung von Neuronen im assoziativen Cortex gebunden. Während der Bewußtseinszustände finden offenbar Umstrukturierungen bereits vorhandener corticaler neuronaler Netzwerke statt – wahrscheinlich durch anatomische oder funktionale Veränderung der synaptischen Verknüpfungsstruktur, oder es werden Netzwerke in neuer Weise vorübergehend (eventuell unter Kontrolle des Arbeitsgedächtnisses) oder auf Dauer zusammengeschlossen. Derartige Vorgänge sind sehr stoffwechselintensiv und führen zu einem überdurchschnittlichen Verbrauch an Glucose und Sauerstoff, was wiederum den lokalen corticalen Blutfluß erhöht. Dies macht man sich bei bildgebenden Verfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) oder funktioneller Kernspinresonanztomographie (fMRI) zunutze. Ob bei der Bildung von corticalen Netzwerken bestimmte Typen von Synapsen (z.B. NMDA-Synapsen) die entscheidende Rolle spielen, ist noch unklar.

Bewußtsein bei Tieren

Während viele Autoren prinzipiell nur dem Menschen Bewußtsein zusprechen, halten andere es für methodisch unmöglich, aufgrund des privaten Charakters von Bewußtsein und des Fehlens von Sprache dessen Vorhandensein bei Tieren schlüssig nachzuweisen. Allerdings wird hierbei wiederum übersehen, daß es auch bei Tieren verläßliche, sprachunabhängige Schlüsse auf das Vorhandensein oder Fehlen von Bewußtseinszuständen gibt. Einige Tiere, vor allem Menschenaffen, zeigen kognitive Leistungen, die Menschen nur bewußt vollbringen können, z.B. Selbsterkennen im Spiegel, komplizierte Manipulationen, Lösen schwieriger Probleme oder das Planen längerer Handlungsketten, und sie benutzen bei diesen Leistungen dieselben Hirnstrukturen wie Menschen, z.B. den präfrontalen Cortex. Voraussetzung für diese Leistungen scheint allgemein eine große und anatomisch komplexe Großhirnrinde mit einer hohen Dichte von Nervenzellen zu sein, wie sie sich vor allem bei den großen Menschenaffen ausgebildet hat (die noch größeren Gehirne von Walen und Delphinen zeichnen sich durch eine sehr geringe Zelldichte aus). Es ist deshalb berechtigt, zumindest den Menschenaffen bestimmte, mit diesen Leistungen zusammenhängende menschliche Bewußtseinsformen zuzusprechen. Allerdings ist unser Bewußtsein stark sprachlich überformt. Bemerkenswerter ist, daß sich beim Kind die typisch menschlichen Bewußtseinsformen, z.B. selbstreflexives Bewußtsein, parallel zur syntaktischen Sprache entwickeln, die allein der Mensch zeigt. Untersuchungen an sog. Split-Brain-Patienten mit durchtrenntem Balken (Corpus callosum) zeigen, daß die (bei den meisten Menschen) sprachunfähige rechte Hemisphäre keine komplexeren logischen Operationen ausführen kann, was einer impliziten Informationsverarbeitung ähnlich ist. Entsprechend wurde gefolgert, daß Primaten "zwei rechte Hemisphären" besitzen. Allerdings ist das Gehirn eines Schimpansen in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit der rechten Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten weit überlegen. Es mag sein, daß beim Menschen die rechte Hemisphäre durch die Entwicklung der Sprachfähigkeit in der linken Hemisphäre kognitiv verarmt ist.

Philosophische Probleme des Bewußtseins

Nachdem über viele Jahrhunderte der ontologische Dualismus dominierte, welcher Bewußtsein/Geist einerseits und Gehirn andererseits als verschiedene Wesenheiten ansieht, herrscht inzwischen Übereinstimmung zwischen vielen Philosophen darin, daß Bewußtseinszustände an spezifische Aktivitätszustände des menschlichen Gehirns gebunden sind. Auch sind sich viele Philosophen mit Psychologen darin einig, daß Bewußtsein eine wichtige Rolle bei der Konstruktion interner Realitätsmodelle und entsprechender mentaler Operationen (etwa im Bereich des Probehandelns) spielt oder gar identisch mit solchen Vorgängen ist. Andere sehen im Bewußtsein den Zustand des Zusammenbindens verteilt repräsentierter Information zum Zweck der Handlungsplanung und -steuerung. Nur wenige Philosophen und Psychologen sehen Bewußtsein als ein überflüssiges Beiwerk der Operationen des menschlichen Gehirns an, wie dies der Epiphänomenalismus behauptet. Weniger einig ist man sich hingegen in der Frage, ob Bewußtsein mit der Aktivität bestimmter corticaler Zentren identisch ist oder als emergente Eigenschaft hieraus hervorgeht. Auch ist die Frage einer kausalen Verursachung von Hirnprozessen durch Bewußtseinszustände umstritten. Völlig uneins ist man hinsichtlich der prinzipiellen Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit der definierenden Eigenschaft von Bewußtseinszuständen, nämlich erlebt zu werden. Während die einen dieses Erleben als einen – wenn auch besonders gearteten – Hirnzustand annehmen, sehen die anderen darin ein Phänomen, welches den Bereich des naturwissenschaftlich Erfaßbaren und Beschreibbaren grundsätzlich übersteigt.

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