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Lexikon der Neurowissenschaft: Antidepressiva

Antidepressiva [Mehrzahl; von griech. anti = gegen, latein. depressum = niedergedrückt], E antidepressants, Pharmaka (Psychopharmaka), die ursprünglich primär zur Behandlung endogener Depressionen eingesetzt wurden. Heute werden Antidepressiva aber auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen verwendet, z.B. bei generalisierten Angststörungen, Panikstörungen, Eßstörungen, Zwangsstörungen, Phobien und Schmerzsyndromen. Die Ursachen von Depressionen liegen nach heutigem Kenntnisstand in einem Mangel an Monoaminen (Dopamin, Noradrenalin und Serotonin [5-HT]) im Gehirn. Dadurch kommt es zu einer gesteigerten Empfindlichkeit prä- und postsynaptischer Rezeptoren gegenüber Noradrenalin und 5-HT. Antidepressiva wirken durch Vermehrung dieser Transmitter (Neurotransmitter), wodurch es zu einer sogenannten Down-Regulation dieser Rezeptoren (Rezeptor-Transmodulation) kommt und die Neurotransmission im Zentralnervensystem normalisiert wird. Diese vorausgehende Erhöhung der Transmitterkonzentration wird erreicht, indem entweder die Wiederaufnahme von Serotonin (Anxiolyse, Angstlösung) bzw. von Noradrenalin (Aktivierung der Psychomotorik) oder deren Abbau durch die MAO (Monoamin-Oxidasen) oder COMT (Catechol-O-Methyl-Transferase) gehemmt wird. – Historisch gesehen begann die Entwicklung antidepressiver Substanzen mit der Beschreibung der therapeutischen Wirksamkeit von Imipramin bei depressiven Patienten durch den Schweizer Psychiater Kuhn (1957). Er prüfte Imipramin, eine tricyclische Substanz, zuerst auf eine Wirksamkeit als Neuroleptikum. Ausgehend von dieser Substanz wurde die Gruppe der tricyclischen Antidepressiva abgeleitet. Ihnen gemeinsam ist der "Tricyclus", eine charakteristische Anordnung von drei Ringen. Die einzelnen Substanzen unterscheiden sich durch Veränderungen am Zentralring und/oder an der Seitenkette. Die Modifizierung der Ausgangssubstanz Imipramin führte zu weiteren, aber nicht wirksameren und nebenwirkungsfreieren Antidepressiva, so daß schließlich die Entwicklung neuer Substanzen mit nicht-tricyclischer Molekülstruktur begann. In der Folge wurden tetracyclische Antidepressiva (Maprotilin, Mianserin) und zahlreiche weitere, chemisch völlig andersartige Substanzen entwickelt ( siehe Zusatzinfo ). – Gleichzeitig mit der Entdeckung der antidepressiven Wirksamkeit des Imipramins beschrieben 1957 die amerikanischen Psychiater Loomer, Saunders und Kline, daß der Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer; MAOH) Iproniazid sich zur Behandlung von Depressionen eignet. Zuerst wurde Iproniazid enthusiastisch eingesetzt, jedoch infolge von Lebertoxizität wieder vom Markt genommen. Da unter Iproniazid und weiterentwickelten MAOH (Tranylcypromin) immer wieder toxische Reaktionen auftraten und im allgemeinen das Nebenwirkungsrisiko unter ihnen höher als unter tricyclischen Antidepressiva lag, konnten sich die MAOH nie so gut wie die tricyclischen Antidepressiva durchsetzen und mußten in vielen Ländern wieder vom Markt genommen werden. – Ein Fortschritt in der Therapie mit MAOH stellte die Entwicklung von irreversiblen MAOH zu reversiblen und selektiven MAOH dar (Moclobemid). Mit dem Erfolg der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) konnten sie jedoch nicht mithalten. Der einheitliche, selektivere Wirkmechanismus ( siehe Abb. ) und die gute Verträglichkeit (weniger parasympatholytische Nebenwirkungen, Parasympathicus) führte zu einer großen Verbreitung dieser Substanzklasse (z.B. Fluoxetin, Paroxetin). Die Weiterentwicklung der SSRI führte zu Molekülen, die nicht nur die Wiederaufnahme von Serotonin, sondern auch die von Serotonin und Noradrenalin kombiniert hemmen (Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer; SNRI).

R.M.

Antidepressiva

Die Antidepressiva werden nach ihrer Struktur in fünf Gruppen unterteilt:
1) Tricyclische Antidepressiva sind aus einem stark gewinkelten Dreiringsystem bestehende Substanzen. Ihre antidepressive Wirkung ist um so stärker, je kleiner die Winkel zwischen den Ringen sind. Tricyclische Antidepressiva besitzen parasympatholytische Nebenwirkungen (Parasympatholytika). Man unterteilt weiter in: a) tricyclische Antidepressiva vom Desipramin-Typ: Nortriptylin, Protriptylin; b) tricyclische Antidepressiva vom Imipramin-Typ: Imipramin, Dibenzepin; c) tricyclische Antidepressiva vom Amitriptylin-Typ: Amitriptylin, Trimipramin.
2) Tetracyclische Antidepressiva sind aus einem Vierringsystem bestehende Substanzen, die geringere parasympatholytische Wirkung besitzen als tricyclische Antidepressiva. Beispiele: Maprotilin, Mianserin, beide vom Imipramin-Typ. 3) Unter den bicyclischen Antidepressiva findet man sowohl selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (Citalopram, Paroxetin) als auch Antidepressiva mit anderer chemischer Struktur (Trazodon). 4) Monocyclische Antidepressiva umfassen außer selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (Fluoxetin) auch Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Milnacipran, Venlafaxin). Die monocyclischen Antidepressiva weisen dank ihres selektiveren Wirkmechanismus weniger parasympatholytische Nebenwirkungen auf. 5) Antidepressiva mit anderer chemischer Struktur: a) Amphetamin-Analoge (Tranylcypromin), b) Lithiumsalze.



Antidepressiva

Vergleich der Wirkungsweise der verschiedenen Antidepressiva:
1 Tricyclische Antidepressiva binden an präsynaptische und postsynaptische Rezeptoren für die Neurotransmitter Serotonin (5-HT) und Noradrenalin (NA).
2 Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer binden nur an präsynaptische 5-HT-Rezeptoren, wodurch eine höhere Selektivität und geringere Nebenwirkungen erreicht werden.
3 Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer binden an präsynaptische 5-HT- und NA-Rezeptoren, wodurch eine den tricyclischen Antidepressiva vergleichbare Wirksamkeit bei geringeren Nebenwirkungen erzielt wird.

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