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News: Wohlberechnete Streicheleinheiten

Falls die natürliche Selektion tatsächlich auf einem Existenzkampf zwischen konkurrierenden Individuen beruht, wie konnte sich dann jemals das Prinzip der Kooperation etablieren? Dieses scheinbare Paradoxon wurde im Laufe der Jahre mit Hilfe immer ausgefeilterer Modelle aus der mathematischen Spieltheorie angegangen. Die meisten Modelle gehen davon aus, daß Kooperation dem Alles-oder-Nichts-Prinzip unterliegt: Entweder die Individuen arbeiten zusammen oder sie tun es eben nicht. Doch inzwischen haben Wissenschaftler ihre Vorstellungen deutlich verfeinert.
Gilbert Roberts von der University of Newcastle upon Tyne und Thomas N. Sherratt von der University of Durham in Großbritannien stellen in der Ausgabe von Nature vom 9. Juli 1998 ihr verbessertes Modell vor.

Häufig wird das Problem am Beispiel des sogenannten "prisoner's dilemma" untersucht: Beim Gefangenendilemma geht es darum, daß zwei Gefangene sich eine Zelle teilen. Diese besitzt ein hohes Fenster, welches keiner der Gefangenen auf sich allein gestellt erreichen kann. Das bedeutet, daß ohne Kooperation keine Flucht möglich ist. Wenn aber der eine der Gefangenen den anderen hochhebt, dann kann dieser von oben seinen zurückgebliebenen Genossen hochziehen – und beide entkommen.

Die Methode birgt natürlich ein Risiko: Wird derjenige, der zuerst das Fenster erreicht, tatsächlich die Verabredung einhalten und dem zweiten Gefangenen ebenfalls die Flucht ermöglichen? Wenn er sich nicht an das Geschäft hält, dann kann er sich schneller entfernen. Der Zurückbleibende, der ihm erst zur Flucht verholfen hat, hätte dann das Nachsehen. Das Dilemma besteht darin, daß die Beteiligten das Risiko einer Zusammenarbeit eingehen müssen, bei der sie nur einen möglichen, keinen gesicherten Vorteil auf ihrer Seite haben.

Wenn man mehrere Spielverläufe betrachtet, stellt sich heraus, daß es umso wahrscheinlicher zu einer Kooperation kommt, je größer die Möglichkeit ist, daß die Partner sich wiedertreffen werden. Die effektivste Strategie scheint darin zu bestehen, zuerst einmal zu kooperieren – und diese Zusammenarbeit solange fortzusetzen, wie es auch der Partner tut. Diese Strategie ist als "TIT FOR TAT" bekannt und entspricht dem "Wie Du mir, so ich Dir". Aber Roberts und Sherrat zeigen, daß das Leben doch etwas komplizierter funktioniert. Im Spiel können die Gefangenen sich nur entscheiden, ob sie zusammen arbeiten wollen oder nicht – schwarz oder weiß. Im Leben dagegen sind viele Zwischenstufen möglich.

Die Wissenschaftler verwiesen auf die Trottellummen (Uria aalgae), Vögel die sich gegenseitig sekunden- bis minutenlang das Gefieder putzen – was von dem Grad der Kooperation abhängt. Durch die Erkenntnis, daß es hier verschiedene Stufen gibt, eröffnet sich eine ganz neue Welt von subtilen Spielmöglichkeiten. Zum Beispiel kann ein Mitspieler "betrügen", indem er immer ein kleines Quentchen weniger an Unterstützung an andere gibt, als er von ihnen bekommt.

Die Wissenschaftler bauten diese Möglichkeiten des "variablen Investment" in ihr neues mathematisches Modell ein und zeigten, daß die Gesellschaft am effektivsten funktionierte, in der die Spieler auf altruistische Handlungen mit Interesse reagierten. Diese Strategie wird als "raise the stake" (Erhöhen Sie den Einsatz) bezeichnet. Dieses Vorgehen widersteht am ehesten dem Auftauchen von Egoismus, Betrug und dem Versuch, sein Gegenüber zu unterbieten. Auch würde es ein realistischeres Modell für tierisches Verhalten darstellen.

Das Modell sagt voraus, daß es bei ersten Begegnungen am erfolgversprechendsten sei, zunächst die Situation auszuloten und Investitionen und Kooperation in geringem Maße durchzuführen, so daß langsam Vertrauen aufgebaut werden könne. Dies sei ein effektiveres Verhalten als plötzliche starke Vertrauensbeweise zu wählen. Die Wissenschaftler sind der Meinung, relativ kleine Ansätze, wie die wechselseitige Pflege, können ausgeprägtere Kooperationen einleiten, wie das Teilen des Futters und die Bildung von Bündnissen.

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