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News: Rätselraten im Superschwergewicht

Würden mittelalterliche Alchemisten in ein modernes Physiklabor versetzt - sie wüßten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten. Für sie sähe es so aus, als hätten Physiker in einem gewissen Sinne einen alten Traum in die Realität umgesetzt: Die Umwandlung eines Elementes in ein anderes. In ihrem ganz profanen wissenschaftlichen Alltag sind sie in der Lage, immer schwerere künstliche Elemente zu erschaffen, die die Natur nicht kennt.
Aber auch die Besten haben ihren Kummer. Dies zeigt ein Bericht in der deutschen Ausgabe von Angewandte Chemie Nr. 18 vom September 1998 Peter Schwerdtfeger und Michael Seth von der University of Auckland, Neuseeland, und Knut Faegri von der University of Oslo, Norwegen, üben sich in einer weiteren mittelalterlichen Kunst. Sie betreiben eine Art Vorhersage. Ihr Blick in das Dunkel betrifft die Eigenschaften des superschweren Atoms von Element 114 – einem Atom, welches bisher niemand herstellen konnte. Darüberhinaus versagten bisher auch die leistungsstärksten Computer bei der Berechnung der ungewöhnlichen Eigenschaften dieses extrem großen Atoms. Die Erkenntnisse der Wissenschaftler sind also wirklich in schwerer Arbeit gewonnen.

Das schwerste natürlich vorkommende Element ist Uran. Es hat die Ordnungszahl 92. Uran besitzt also in seinem Kern 92 positiv geladene Protonen, deren Ladung – in einem elektrisch neutralen Atom – vom 92 negativ geladenen Elektronen ausgeglichen wird, die den Kern in verschiedenen Schalen umkreisen. Die Zahl und Ordnung dieser Elektronen um den Kern bestimmt seine chemischen Eigenschaften.

Der Kern eines Uranatoms hat aber kein "Gewicht" von 92 Einheiten: In allen Elementen ist der Kern von elektrisch neutralen Teilchen umgeben, den Neutronen, deren Masse etwas größer als die eines Protons ist. Für jedes Element kann eine Anzahl von Isotopen existieren. In diesen wird die festgelegte Zahl von Protonen im Kern von jeweils unterschiedlichen Mengen von Neutronen begleitet. Das am häufigsten vorkommende Uran-Isotop ist Uran 238, in dem die 92 Protonen von 126 Neutronen umgeben ist.

Unterschiede in der Neutronenzahl haben nur einen kleinen Einfluß auf die chemischen Eigenschaften eines Elementes, aber sie machen sich in anderer Weise bemerkbar. Die Atome einiger Isotope sind instabil und zerfallen spontan, wobei sie radioaktive Strahlung emittieren. Die Protonen des Kerns können sich plötzlich in Neutronen wandeln, so daß sich die Ordnungszahl ändert – so kann ein Element zu einem anderen werden. Solche Transformationen können künstlich induziert werden. Der Beschuß von Atomen mancher Elemente mit Neutronen kann schwerere Atome neuer Elemente erschaffen, die bisher unbekannt waren – der Traum der Alchemie.

Auf diese Art erschufen Physiker und Chemiker eine ganze Reihe von "Transuranen" – Atome, die schwerer als Uran sind. Sie alle sind radioaktiv, und die meisten von ihnen zerfallen blitzschnell in andere Elemente. Vielleicht das bekannteste Beispiel hierfür ist Plutonium, das Element 94.

Die Elemente bis zur Ordnungszahl 112 wurden schon in Teilchenbeschleunigern gebildet, und die Elemente 113 und 114 könnten bald folgen. Obwohl alle Isotope dieser Elemente nur eine flüchtige Existenz zeigen, konnte einige Einblicke in ihr Verhalten – manchmal nur an einzelnen Atomen – gewonnen werden, bevor sie wieder verschwanden.

Doch wo der experimentelle Ansatz nicht zum Ziel führt, helfen Computermodelle weiter. Schwerdtfeger und seine Kollegen haben ein Modell des Atoms von Element 114 erstellt, um Vorhersagen über seine Chemie machen zu können.

Die konventionelle Chemie sagt voraus, daß 114 in eine Elementgruppe fallen wird, zu der Kohlenstoff (Element 6, mit sechs Protonen und sechs Elektronen), Silicium (14), Germanium (32), Zinn (50) und Blei (82) gehören. Ein einzelnes Kohlenstoffatom kann vier chemische Bindungen zugleich eingehen. Vor allem diese Eigenschaft erklärt vielleicht, warum Kohlenstoff die Basis des organischen Lebens darstellt. Siliciumatome sind fast genauso handlich – die meisten der Erdgesteine bestehen aus Siliciumketten, die mit anderen Elemente wie Sauerstoff oder Aluminium verbunden sind. Aber größere Elemente wie Zinn und Blei können nur unter enormer Schwierigkeit vier Atome zugleich binden. Solche Bleiverbindungen sind unstabil, ja sogar explosiv. Blei tendiert dazu, maximal zwei Atomen zugleich zu binden.

Nach den theoretischen Berechnungen verhält sich Element 114 wie eine gigantische Version von Blei. Es ziert sich geradzu, wenn es mehr als zwei chemische Bindungen auf einmal ausbilden soll. Das Wissen um die Reaktivität ist wichtig, um Verfahren zu entwickeln, mit denen später die wenigen Atome eingefangen werden können, die ein Teilchenbeschleuniger herstellen kann. Ein Atom, das vier Bindungen eingeht, wäre nämlich in der Gasphase stabil, Substanzen mit nur zwei Bindungen dagegen in Wasser.

Was allerdings die Vorhersagen mehr als alles andere erschwert, sind die Konsequenzen aus der reinen Größe und Komplexität des Atoms. Kerne, die so groß und so stark geladen sind, binden ihre Elektronen unheimlich fest an sich. Dadurch bewegen sich die Elektronen mit relativistischen Geschwindigkeiten um den Kern, d.h. sie sind fast so schnell wie das Licht. Nach der Relativitätstheorie steigt damit ihre scheinbare Masse an. Und diese zusätzliche Masse hat wiederum Auswirkungen auf die Chemie und die Eigenschaften des Atoms.

Wozu dann dieser Aufwand? Warum wollen die Forscher unbedingt verstehen, wie ein Element sich verhält, daß es in der Natur gar nicht gibt? Mal abgesehen von der individuellen Neugier der Wissenschaftler, suchen sie nach "Inseln der Stabilität". Einige Forscher sind der Ansicht, daß Atome mit einer hinreichend großen Masse und einem bestimmten Verhältnis von Protonen und Neutronen so stabil sein könnten, daß sich deren Eigenschaften in Ruhe untersuchen ließen. Die Ergebnisse könnten dann unser Verständnis des ehrwürdigen Periodensystems – und der Materie überhaupt – in noch ungeahnter Weise erweitern.

Nach den "Inseln der Stabilität" zu suchen, ist eine ehrenvolle Aufgabe, doch der Ruf "Land in Sicht" liegt zur Zeit noch in Theorie und Experiment weit hinter dem Horizont.

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