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News: Wenn's vorne nicht mehr weitergeht

Sie kennen das: Sie sitzen zur Hauptverkehrszeit im Auto, versuchen sich mit dem Radio zu beruhigen und bewegen sich nur mit kleinen Sprüngen vorwärts. 20 Meter lang erleben Sie den Genuß des zweiten Ganges, und dann heißt es wieder anhalten. Sie dachten, Sie wären nur ein armer, geplagter Pendler, aber in Wahrheit nahmen Sie an einem Experiment teil über die Physik der Selbstorganisation. Dieses Experiment wiederholt sich tagein, tagaus auf den Autobahnen dieser Welt. Doch erst jetzt beginnen die Physiker, das komplexe Zusammenwirken jener Faktoren zu enträtseln, die im dichten Verkehr zu spontanen Staus führen.
Wohl jeder kennt das faszinierende – um nicht zu sagen: nervenaufreibende – Phänomen der spontanen Staus. Eine gute halbe Stunde sitzen Sie im Verkehr fest, der sich kaum weiterbewegt. Und kommen Sie dann zum offensichtlichen Ausgangspunkt des Hindernisses, ist da gar nichts, als hätte sich der Stau plötzlich in Luft aufgelöst. Denken Sie doch einen Moment darüber nach, wie ein Verkehrsfluß eigentlich aussieht.

Auf einer spärlich befahrenen Autobahn haben die Autos meist großen Abstand, fahren mit beliebiger Geschwindigkeit und wechseln nach Lust und Laune die Spur. Den Physiker läßt dies an ein Gas denken – ein System von geringer Dichte, in dem sich Teilchen willkürlich umherbewegen und sich nur sehr selten begegnen.

Dann kommt die Rush-Hour, und die Verkehrsdichte nimmt plötzlich zu. Es gibt weniger Raum zum Manövrieren, ohne das Risiko eines Zusammenstoßes einzugehen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit nimmt ab. Jetzt ähnelt der Verkehr eher einer Flüssigkeit.

Wird die Dichte zu groß, kommt es zum sogenannten Einfrieren. Es bilden sich Ansammlungen von "Feststoffen": Die Fahrzeuge sind dicht und regelmäßig angeordnet und können sich wegen ihrer unbeweglichen Nachbarn auch selbst nicht bewegen. Grob gesagt, ist ein Verkehrsstau so ähnlich wie das Gefrieren – der Phasenumwandlung von flüssig nach fest.

B. S. Kerner vom damaligen Daimler Benz Forschungsinstitut in Stuttgart zeigt in den Physical Review Letters vom 26. Oktober 1998, daß alles noch viel komplizierter ist. Die Bildung eines richtig langen Staus scheint eine Abfolge kleinerer Übergänge vom freien Fluß hin zu immer stärker eingeengten und synchronen Verkehrszuständen zu sein. Kerner analysierte Daten über den schleppenden Verkehr auf deutschen Autobahnen, die er über mehrere Jahre gesammelt hatte. Er berichtet von charakteristischen Mustern, die dem Erscheinen des gefürchteten Stop-and-Go-Status vorausgehen.

Zunächst geht der Verkehrsfluß von der freien in eine synchrone Bewegung über, in dem Maße, wie sich die Fahrzeugdichte erhöht (also beispielsweise die Anzahl der Wagen pro Kilometer). Beim synchronen Fluß fahren alle Fahrzeuge mit nahezu gleicher Durchschnittsgeschwindigkeit. Bereits dieser Zustand ist nicht ungefährlich, da die Fahrzeuge plötzlich sehr abhängig voneinander sind. Physikalisch ausgedrückt, ist die Bewegung korreliert. Wenn die Bewegung der Elektronen in Metallen korreliert, passieren seltsame Dinge, wie zum Beispiel der Übergang in die Supraleitfähigkeit. Wenn also die Geschwindigkeit im Straßenverkehr korreliert, bedeutet es Ärger für die Fahrer.

Und dann geht es los – in Form von Kurz-Staus, die sich spontan im synchronen Verkehrsfluß bilden. Schon ein einziges Auto kann das verursachen, indem es im Fluß leicht abbremst, weil der Fahrer zum Beispiel gerade damit beschäftigt ist, die Musikcassette zu wechseln. Eine solche wirklich kleine Störung des Verkehrsflusses kann bewirken, daß die Geschwindigkeit an etlichen Stellen rapide sinkt. Diese Kurz-Staus können überall im Verkehrsfluß auftreten, kommen aber logischerweise häufiger an Knotenpunkten vor, an Autobahnein- und ausfahrten. Dort ist eine zeitweilige Geschwindigkeitsverringerung am wahrscheinlichsten.

Demnach wandelt sich also ein stetiger, synchroner Fluß langsam in eine Serie von kurzen Staus um. Dieser Zustand kann eigentlich unendlich fortbestehen, vorausgesetzt, das Verkehrsaufkommen bleibt konstant. Wenn es doch zu groß wird, so Kerner, kommt die nächste Krise, die Sie zu spät zum Abendessen kommen läßt – ein Phänomen, das der Forscher "Ballungseffekt" nennt. Es bedeutet, daß sich die Kurz-Staus in einer bestimmten Region konzentrieren. Die Abstände werden in dem Maße immer kürzer, wie die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrzeuge abnimmt – und die Stop-and-Go Situation ist erreicht. Sie entkommen einem Kurz-Stau, um ein Stückchen weiter vorne im nächsten zu landen. Letztendlich vereinigen sich die kurzen Staus im Ballungsbereich zu ausgeweiteten Staus, und Sie sitzen im Wagen und trommeln hilflos mit den Fingern auf das Lenkrad. Sie befinden sich nunmehr im "Festkörper-Verkehr".

Synchroner Verkehr kann chaotisch werden, wenn er sich in eine ganze Reihe ausgeweiteter Staus verwandelt. Diese werden jedoch immer einen bestimmten Abstand voneinander halten. Kurze Staus außerhalb eines ausgeweiteten Staus werden entweder absorbiert vom großen Stau oder sie lösen sich auf. Der dichte Verkehr hat somit die seltsame Eigenschaft, sich selbst umzuorganisieren – zu einer Serie ausgeweiteter Staus, die alle ungefähr den gleichen Abstand voneinander haben. Man kann das mit Wüstensand vergleichen, der durch den Wind zu einer Reihe von sanften Wogen mit etwa dem gleichen Abstand angeordnet wird.

Obgleich die Fahrer glauben, sie handeln bewußt, werden sie doch zu Teilchen, die nach einem höheren Plan angeordnet werden – dem des sich selbst organisierenden Verkehrsflusses. Und die Autowerbung, die Ihnen "Freiheit" versprach hat, hat Sie in Wahrheit zu einem Leben als Sandkorn verdammt.

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