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News: Unterschlupf im arktischen Klima

Zur Jagd ziehen die Bewohner Grönlands heute mit moderner Ausrüstung, doch noch vor wenigen Jahrzehnten hinterließen ihre Vorfahren in Höhlen und unter Felsüberhängen Spuren einer Lebensweise, die der von eiszeitlichen Jägern und Sammlern in Europa nicht allzu fern lag. Solche gut erhaltenen Belege können dazu verhelfen, Funde aus der Eiszeit sachkundiger zu deuten und mehr darüber zu erfahren, wie die Menschen damals lebten.
Feuerstellen, Stein- und Geweihgeräte oder Tierknochen, die Archäologen bei Ausgrabungen freigelegt haben, zeigen, dass die Menschen während der Eiszeit in Europa den Schutz von Höhlen und überhängenden Felsen zu schätzen wussten. Aus den vorliegenden Relikten mehr darüber abzulesen, wie sich das Leben dieser Jäger und Sammler bis vor etwa 10 000 Jahren abspielte, ist jedoch nicht einfach. Schwierig sind auch Rückschlüsse auf natürliche Vorgänge, die dazu führten, dass Spuren zerstört wurden oder aber bis in unsere Zeit erhalten blieben.

Zusätzliche Ausgrabungen in Europa könnten helfen, solche Fragen zu beantworten, wären aber zeitaufwendig und teuer. Ein anderer Zugang bietet sich über Untersuchungen in Gebieten, in denen jägerische Bevölkerungen heute noch Höhlen und Felsüberhänge nutzen. Solche Studien wurden bisher allerdings selten und nur in tropischen und subtropischen Gebieten durchgeführt, die mit dem eiszeitlichen Mitteleuropa kaum etwas gemeinsam haben. Arktische Regionen eignen sich besser für den Vergleich. Von Alaska bis Grönland nutzten Jäger noch im 20. Jahrhundert Höhlen und Felsüberhänge, und Belege für historisches menschliches Verhalten sind in diesem Klima hervorragend konserviert. Zwar jagten die Menschen im eiszeitlichen Mitteleuropa in Tundren und Steppen, weit vom Meer entfernt, während die an der Küste lebenden Eskimo auf die Jagd von Walen und Robben spezialisiert waren. Im Sommer jedoch waren Rentiere im Binnenland vor dem grönländischen Inlandeis eine bevorzugte Beute, so dass Parallelen zu den Jagdgewohnheiten der Eiszeit-Jäger bestehen.

Ein traditionelles Rentierjagdgebiet der Eskimo – die sich selbst als Inuit bezeichnen – liegt in einem Inlandstreifen von etwa 150 km Breite im Sisimiut-Distrikt in Westgrönland. Die Nähe zum Zentralflughafen Kangerlussuaq macht diesen Distrikt als Arbeitsgebiet für Wissenschaftler attraktiv. Bodenkundler, Geomorphologen und Glaziologen arbeiten hier daran, Rückschlüsse auf die Bedingungen in Mitteleuropa vor über 10 000 Jahren zu finden. Für das Gebiet existieren detaillierte archäologische, ethnohistorische und archäozoologische Untersuchungen – kein Teil der Insel ist hinsichtlich Ressourcennutzung, Siedlungs- und Sozialorganisation besser beschrieben. Nur vor dem Hintergrund dieses Wissens ist es möglich, die Nutzung von Höhlen durch Inuit zu verstehen.

Für die gezielte Suche nach Spuren, die Jäger hinterlassen haben, bietet sich dieses Gebiet also an. Zunächst muss man die weit verstreuten Hinweise und Erwähnungen von Höhlen in den Schriften von Missionaren, Völkerkundlern und anderen Forschungsreisenden zusammentragen und auswerten. Der nächste Schritt ist herauszufinden, welche Konsequenzen das arktische Klima, die Art der Nutzung und die Tierwelt für die Erhaltung und Sichtbarkeit von Funden haben. Erst dann kann man versuchen, diese Erkenntnisse auf das eiszeitliche Mitteleuropa zu übertragen.

Im August 1999 unternahmen die Archäozoologin Kerstin Pasda und der Urgeschichtler Clemens Pasda eine erste, vierwöchige Geländebegehung im Sisimiut-Distrikt. In deren Verlauf vermaßen, zeichneten und beschrieben sie die entdeckten Fundstellen. Damit das Gepäck während des Aufenthalts in unbewohntem und weglosem Gelände nicht zu schwer wog, nahmen die Forscher vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg außer einem kleinen, satellitengesteuerten Gerät zur Positionsbestimmung der Fundstellen nur einfache Instrumente mit, wie Maßband, Meterstab, Kompass, Höhenmesser und ein Geländebuch.

An Felsblöcken, -verbrüchen und -wänden in Tälern, auf Hochflächen und an Seeufern fanden sich unzählige kleine Höhlen und Überhänge. Um nur etwa fünf Kilometer eines Geländeabschnittes zu begehen, war deshalb manchmal ein ganzer Tag erforderlich. Zum Übernachten erscheinen diese Plätze teilweise ideal. Sie bieten nicht nur Schutz vor Wind und Feuchtigkeit, gleich nebenan wachsen außerdem Zwergweiden als mögliches Brennmaterial. Trotz solch guter Bedingungen und trotz der großen Auswahl lieferten Feuerstellen nur an zwei Felsüberhängen den Beweis dafür, dass Menschen hier gelagert hatten. Bisher sind solche Belege in Grönland generell sehr viel dünner gestreut als Siedlungsfunde aus der Eiszeit in Mitteleuropa. Beim Vergleich ist zwar Vorsicht geboten, da Ausgrabungen in europäischen Höhlen seit mehr als hundert Jahren stattfinden. Dennoch fällt auf, dass zum Beispiel im unteren Altmühltal oder im Périgord fast überall, wo Felsen Schutz boten, auch Spuren eiszeitlicher Siedler zu finden waren.

Dänische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die damaligen Menschen in Grönland dagegen sogar in der Umgebung eines großen, über Jahrtausende hin regelmäßig aufgesuchten Rentierjagdplatzes nur selten Felsblöcke und -überhänge nutzten. Immerhin ergaben die Erlanger Untersuchungen ein differenziertes Bild: Große Felsblöcke bildeten die "Rückwand" stabiler Hütten. In ihren Nischen fanden sich mit kleinen Steinplatten verschlossene Verstecke für die Ausrüstung. Geröllhaufen, die zum Teil an große Blöcke angelehnt waren, bargen erbeutetes Fleisch. Kleinere, mit Steinmauern versehene Felsen dienten als Windschutz oder als Jagdansitz beim Warten auf Rentiere. Dass Gräber oder "Opferstätten" im Schutz von Felsen angelegt wurden, Reisende dort traditionellerweise übernachteten oder aus dörflichen Gemeinschaften Ausgeschlossene sich länger dort aufhielten, konnten die Forscher allerdings nicht belegen, obwohl es schriftliche Zeugnisse dafür gibt. Schon jetzt aber können die Ergebnisse bei der Interpretation eiszeitlichen Fundstellen in Europa nützlich sein.

Auch Grönlands Tierwelt hält sich gern in Felsnischen und unter Felsüberhängen auf, wie das Team aus Erlangen feststellen konnte. Sie entdeckten hier regelmäßig Singvögel, Schneehühner und Eisfüchse. An nur schwer erreichbaren Stellen graben Rentiere und Moschusochsen zum Teil große Kuhlen. Das lässt vermuten, dass auch in der Eiszeit in Europa nicht nur Bären oder Großkatzen die Böden in Höhlen und unter Felsüberhängen "bearbeiteten".

Ein weiterer wichtiger Gegenstand der Geländestudie waren Knochen von Tieren, wie sie in der Tundra sehr häufig vorkommen: meist einzeln und verstreut, zusammengetragen von Vögeln und Eisfüchsen, aber auch in Form natürlich verendeter Tiere. Auch diese Funde untersuchten die Wissenschaftler und bestimmten sie nach Skeletteil, Tierart, Alter, Geschlecht, Brüche, Fraßspuren von Tieren. So kann heute in Grönland beobachtet werden, was mit den von Archäologen ausgegrabenen Knochen in der Eiszeit Mitteleuropas vor Jahrtausenden geschah.

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