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News: Jenseits von Gut und Bö(r)se

Börsenspekulanten sind knallhart kalkulierende Leute, die sich bei ihren Entscheidungen nur von der Vernunft und sonst gar nichts leiten lassen? I wo. Börsenspekulanten sind Leute wie Du und ich. Nicht nüchterne Überlegungen bestimmen oft ihr Handeln, sondern auch Klatsch und Tratsch. Wie Börsengerüchte die Finanzmärkte beeinflussen, das haben jetzt Wirtschaftswissenschaftler untersucht. Solche Gerüchte kann man inzwischen nicht nur auf dem Börsenparkett finden, sondern auch im Internet - und sogar an bestimmte Mailadressen melden. Eine Gigantenhochzeit wie die zwischen der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, die ganz ohne Gerüchte und vorhergehende wilde Kursausschläge über die Bühne geht, gehört dagegen zu den absoluten Seltenheiten.
Das kommt selbst an der Börse nicht alle Tage vor: Innerhalb von Stunden machte die Aktie der Degussa einen Sprung um gleich 15 Prozent nach oben. Nur Stunden später war sie wieder zum alten Kurs zu haben. Was war geschehen? Der aus Indien stammende Frankfurter Biochemiker Prakash Chandra hatte bei einem Treffen mit Frankfurter Bankenbossen darüber gesprochen, dass er an einem Mittel gegen AIDS arbeite und dieses Mittel bei der Degussa gestestet werde. Die naturwissenschaftlich offensichtlich unbedarften Banker missdeuteten das nicht nur als einen Durchbruch im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit, sondern erzählten es auch weiter – ein Börsengerücht war geboren. Die Degussa war gezwungen, die überzogenen Hoffnungen zu dämpfen.

Kein Einzelfall: Gerüchte bestimmen das Geschehen auf den Finanzmärkten in einem Maße, das Laien und selbst die meisten Börsianer kaum für möglich halten. Immer noch hält sich in den Wirtschaftswissenschaften nämlich hartnäckig der Begriff vom "homo oeconomicus", dem "wirtschaftlich und rational denkenden Menschen", der sich ausschließlich von kühl kalkulierender Vernunft leiten lässt und von sonst gar nichts.

Dieser "homo oeconomicus" ähnelt eher einem Mathematiker: Seine Welt sind die Kurs-Charts oder die fundamentalen Kennzahlen der börsennotierten Unternehmen. Chartisten versuchen, aus den Aktienkursen der Vergangenheit die künftigen Kurse zu berechnen. Auch Fundamentalisten möchten die künftigen Aktienkurse vorherberechnen, nur benutzen sie dazu "harte" Zahlen wie etwa das Verhältnis zwischen dem Kurs einer Aktie und deren Gewinn, die Dividendenrendite oder den für die Zukunft erwarteten Umsatz.

Doch zumindest kurzfristig hängen Kurse häufig nicht von Fakten ab, sondern von Gerüchten. Beispiele der letzten Zeit sind etwa, dass der Großaktionär des Automobilbauers BMW, die Familie Quandt, ihre Anteile an Ford verkaufen wolle oder dass die HypoVereinsbank die Dresdner Bank übernehmen werde – ein Rennen, das jetzt freilich, ohne vorherige Gerüchte, die Deutsche Bank gewonnen hat. Dafür kocht die Gerüchteküche nun um so heftiger, wie die Spekulationen über die Commerzbank (CB) und die Hongkong and Shanghai Banking Corporation zeigen: Gestern stieg der Kurs der CB um glatte fünf Prozent. Auch der Pharmakonzern Schering ist fast schon aus Tradition immer mal wieder das Ziel von Übernahmegerüchten. Grund genug für den Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Thiessen von der TU Chemnitz, die Rolle der Gerüchte in der Finanzwelt einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

An den Finanzmärkten, so Thiessen, sind Gerüchte etwas Alltägliches – alle paar Minuten kommt ein neues auf. Nur wenige Gerüchte sind allerdings so bedeutend, dass sie zu heftigen Preisausschlägen führen. Betroffen sind neben Aktien auch alle anderen Werte, die an den Finanzmärkten gehandelt werden, von Devisen über Schweinebäuche und Rohkaffee bis hin zu Gold. Der Markt reagiert auf ein Gerücht meist nach dem immer gleichen Muster: Zunächst bewegt sich der Preis nach oben oder unten, je nachdem, wie der Gerüchteurheber es beabsichtigt hat. Jeder will dabei sein, sei es, um von einem steigenden Kurs zu profitieren, sei es, um einen Verlust zu vermeiden. Darauf folgt eine Phase der Unsicherheit, der Preis verhält sich unentschlossen. Schließlich – oft schon nach Minuten – wird die wahre Natur des Gerüchts erkannt, der Kurs bewegt sich auf sein ursprüngliches Niveau zurück.

Thiessen erläutert dies an zwei Beispielen: Im einen Fall sackte der Dollar innerhalb von Minuten um fast einen halben Pfennig ab und stieg nach einer kurzen Pause ebenso schnell wieder an, im anderen verleitete ein Gerücht einige große Investmentfonds dazu, ihre Positionen zu "hedgen", wie Börsianer Geschäfte nennen, mit denen sie sich gegen Kursschwankungen absichern. Doch bis der Kurs sich wieder normalisiert, hat sich der Urheber des Gerüchts oft schon mit Gewinn aus dem Markt zurückgezogen.

Natürlich versucht der Urheber, unerkannt zu bleiben, und Börsianer, die ein Gerücht weitertragen, gibt es immer. Sehr viele dieser Gerüchte sind bewusste Falschinformationen. Wenn es dabei um Wechselkurse geht, werden häufig die Zentralbanken der großen Länder vorgeschoben, die angeblich gerade eine bestimmte Währung kaufen oder verkaufen, bei Wertpapieren werden dagegen oft finanzkräftige Araber oder Firmen aus dem ehemaligen Ostblock ins Spiel gebracht. Im Februar 1989 kursierte an den Devisenmärkten gar die Meldung, in der Sowjetunion habe es eine Atomexplosion gegeben – unmittelbar darauf zog der Kurs des Dollars kräftig an.

Es kommt sogar vor, dass eine Falschmeldung irrtümlich von einer der großen Nachrichtenagenturen oder einem Fernsehsender verbreitet wird, und die sind natürlich besonders glaubwürdig. Das war etwa 1992 der Fall, als eine Meldung um die Welt ging, die Bundesbank trete für eine Abwertung des englischen Pfunds und der italienischen Lira ein – beide Währungen sackten unmittelbar darauf in den Keller. Nachdem die Zentralbanken Deutschlands, Großbritanniens und Italiens die Meldung dementiert hatten, erholten sie sich aber innerhalb einer Stunde wieder. Später stellte sich heraus, dass es sich bei der Meldung nur um die Analyse einer französischen Bank handelte, die mit den Absichten der Bundesbank nichts zu tun hatte.

Thiessen sieht in diesem Vorfall ein Paradebeispiel für ein erfolgreiches Gerücht: Es reiche nämlich nicht, dass eine Meldung interessant sei, sie müsse vielmehr auch durch die richtigen Kanäle verbreitet werden und auf die richtige Stimmung treffen. Und die war damals da: Die europäischen Währungen waren im Europäischen Währungssystem (EWS) zusammen geschlossen und durften nur geringfügig gegeneinander schwanken, andernfalls mussten die Notenbanken mit Stützungskäufen eingreifen. Die Wechselkurse entsprachen jedoch längst nicht mehr den wirtschaftlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern.

Aussichtsreiche Gerüchte, so hat Thiessen erkannt, verbreiten sich besonders, wenn die Finanzmärkte sich nach einer turbulenten Phase wieder beruhigen. In solchen Zeiten mangelt es meist an wirklichen Informationen, Gerüchte werden dann um so eher beachtet. Und das auch zum Wohl der Banken und der Börsenmakler: Ruhige Zeiten bedeuten nämlich ruhige Umsätze, und von den Spesen auf diese Umsätze leben Banken und Kursmakler. Gerüchte dagegen beleben das Geschäft, die Kunden lassen sich leichter zum Wechsel in neue Papiere bewegen.

Aber warum reagieren die Börsianer überhaupt auf Gerüchte, warum ignorieren sie sie nicht einfach, wo sich doch meist der Kurs schnell wieder normalisiert? Auch darauf hat Thiessen eine Antwort: Die Informationen enthalten oft einen Kern von Wahrheit, und: Sie können nur für eine kurze Zeit genutzt werden. Gerüchte setzen daher die Empfänger unter Entscheidungsdruck. Die haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder reagieren sie sofort und springen wie ein Trittbrettfahrer auf – dann hat der Urheber sein Ziel schon erreicht, denn er hat sich ja zuvor mit entsprechenden Papieren eingedeckt, die er mit Gewinn wieder loswerden will. Oder sie reagieren misstrauisch, versuchen an weitere Informationen zu kommen. Dazu telefonieren sie mit anderen Börsianern, verbreiten dadurch ungewollt das Gerücht weiter und steigern so noch seine Wirkung – auch das hat der Urheber einkalkuliert.

Dabei ließen sich manche Gerüchte ohne weiteres als falsch erkennen, wenn die Empfänger nur ein wenig nachdenken würden. So verbreitete 1994 ein Fernsehsender, in Zürich seien 1240 Tonnen Gold aus dem Besitz des früheren philippinischen Diktators Ferdinando Marcos entdeckt worden. Klar, dass, hätte die philippinische Regierung das Gold zu Geld gemacht, das plötzliche Überangebot die Preise gedrückt hätte. Genau das nahm der Markt vorweg – der Goldpreis brach ein. Kennern war dagegen sofort klar: 1240 Tonnen Gold, eine derart gigantische Menge – die halbe Weltjahresförderung – hätte selbst Marcos nie und nimmer zusammen raffen können. Logisch, dass der Preisverfall nur kurze Zeit dauerte.

Geschickte Gerüchte sehen denn auch anders aus. Als in England 1993 die Grundstückspreise im Keller waren, kaufte der US-Fondsmanager und Spekulant George Soros dort für 500 Millionen Pfund Immobilien – angeblich aus Angst vor einer drohenden Inflation. Soros war eine schillernde Figur, hatte er doch nur ein Jahr zuvor den Preis des britischen Pfunds in den Keller gedrückt und mehrere Milliarden Mark Gewinn dabei gemacht. Kein Wunder, dass jede seiner Handlungen von den Börsianern mit Argusaugen beobachtet wurde. Das nutzten ein paar findige Gerüchtemacher: Sie verbreiteten, Soros habe zuvor riesige Mengen festverzinslicher Wertpapiere "leer" verkauft – darunter verstehen Börsenleute den Verkauf von Papieren, die sie gar nicht besitzen und erst später liefern müssen. Sinken in der Zwischenzeit die Preise, können sie billig einkaufen und machen ein gutes Geschäft. Das Gerücht machte Sinn: Leergeschäfte tätigt nämlich nur, wer steigende Zinsen und damit sinkende Kurse erwartet. Und genau das schien Soros' Immobilienkauf zu belegen. Es war deshalb glaubwürdig, dass Soros die Wertpapiere leer verkauft hatte, weil er sie bei sinkenden Kursen hätte "glattstellen" können, so der Fachausdruck.

Klar, dass mittlerweile Börsengerüchte auch im Internet verbreitet werden. Das eignet sich wegen seiner Schnelligkeit ganz besonders als Gerüchteküche, und zudem kann dort inzwischen auch der ganz gewöhnliche Bankkunde im Sekundentakt die Kurse abrufen und sofort mit Kauf- oder Verkaufsaufträgen reagieren. Nicht immer geht es dabei lauter zu: Mitte Februar etwa knackten Hacker die Internetseite einer Biotech-Firma und kündigten dort die Fusion dieser Firma mit einer weiteren an. Nach dieser vermeintlich offiziellen Meldung explodierten die Kurse beider beteiligten Firmen – bis das Dementi kam und die Seite von der Firma geschlossen wurde. Investoren und Händler verloren dabei eine Menge Geld. Ähnliches passierte im vorigen Jahr einer US-Elektronikfirma, wo ein Angestellter sogar die Internetseite einer Finanznachrichtenagentur fälschte und einen Link auf die gefälschte Seite legte, ein klarer Fall von Betrug. Sein Motiv: Er wollte von den steigenden Kursen profitieren.

Selbst eine eigene Seite für Börsengerüchte gibt es inzwischen, doch dort geht es seriös zu. Unter http://www.instock.de/geruechte/index.shtml kann man den letzten Klatsch vom Börsenparkett erfahren und per e-mail an geruecht@instock.de sogar das neueste Gerücht selber melden. "Gerüchte sind doch das Salz in der Börsensuppe", so Instock-Mitarbeiter Frank Markowski. Allerdings stelle man die Gerüchte nicht einfach ungeprüft ins Netz, sondern versuche, sie zu verifizieren – etwa durch einen Anruf beim Vorstand der betreffenden Firma. Da höre man zwischen den Zeilen viel heraus, und wenn man den Eindruck gewinne, das etwas dran ist, bringe man es – "natürlich als Gerücht, nicht als Fakt."

Ganz anders sah das Thema übrigens der im vergangenen Jahr verstorbene Börsenguru André Kostolany: "Ein Börsianer darf, wenn es sich um Börsengerüchte handelt, nicht einmal seinem eigenen Vater trauen."

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