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Absoluter Nullpunkt: Boltzmann steht Kopf

Symbolbild für die umgekehrte Boltztmann-Verteilung

In der Schule bekommt jeder eingetrichtert, dass es einen absoluten Kältenullpunkt gibt – die Temperatur sinkt niemals unter null Kelvin, weder auf der Erde noch im Weltall. Doch jetzt stellen Physiker aus München und Garching diese physikalische Grundfeste auf den Kopf: Sie brachten so genannte ultrakalte Quantengase dazu, ein Verhalten zu zeigen, das negativen Temperaturen entspricht. Wie ist das möglich?

Die Temperatur eines Körpers oder Gases lässt sich nach der so genannten Boltzmann-Statistik definieren – benannt nach dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, einem der Begründer der statistischen Mechanik: Die Statistik beschreibt die Energieverteilung von Teilchen in einem Medium. Demnach nimmt deren Anzahl mit steigender Energie exponentiell ab: Immer weniger Teilchen konzentrieren hohe Energien auf sich. Die meisten sind im thermischen Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Dieses Verhalten ist universell. Ferner kommen alle Teilchen bei null Kelvin (minus 273 Grad Celsius) gänzlich zur Ruhe. Das definiert die unterste Grenze in unserer natürlichen Welt.

Heiße Minusgrade | Bei einer negativen absoluten Temperatur (rote Kugeln) kehrt sich die Energieverteilung von Teilchen im Vergleich zur positiven Temperatur (blaue Kugeln) um. Dann weisen viele Teilchen eine hohe und wenige eine niedrige Energie auf. Das entspricht einer Temperatur, die heißer ist als eine unendlich hohe Temperatur, bei der sich die Teilchen über alle Energien gleich verteilen. Experimentell ist eine negative Kelvin-Temperatur nur zu erreichen, wenn der Energie eine obere Grenze gesetzt wird, so wie stillstehende Teilchen eine untere Grenze für die Bewegungsenergie bei positiver Temperatur bilden – das haben Physiker der LMU sowie des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik nun geschafft.

Was aber, wenn man die Energieverteilung auf den Kopf stellt? "Die umgekehrte Boltzmann-Verteilung ist genau das, was eine negative absolute Temperatur ausmacht", sagt Ulrich Schneider vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zusammen mit einem Team von Kollegen, dem auch der bekannte Quantenphysiker Immanuel Bloch angehört, entwickelte er ein System, bei dem hohe Energiezustände exponentiell öfter belegt sind als niedrigere. Dabei sei das Gas aber nicht kälter als null Kelvin, erklärt der Physiker, sondern nur heißer: "Die Temperaturskala springt zu negativen Werten." Das klingt zunächst seltsam, ist aber Folge der historischen Definition der Temperatur; wäre sie anders definiert worden, gäbe es diesen scheinbaren Widerspruch nicht.

In natürlichen Systemen – in Wasser beispielsweise – lassen sich negative Temperaturen jedoch nicht erreichen. Dazu wäre unendlich viel Energie nötig. Besitzen Teilchen jedoch eine obere Grenze für ihre Energie, wie zum Beispiel die potenzielle Energie von Kugeln auf der Spitze eines Hügels, ändert sich die Situation grundlegend. Ein solches System mit einer oberen Energiegrenze haben die Forscher um Bloch und Schneider nun im Labor verwirklicht. Sie folgten dabei Gedankengängen des Kölner Physikers Achim Rosch und des Niederländers Allard Mosk, die zum Thema schon Vorarbeit geleistet hatten.

Temperatur als Murmelspiel | Die Boltzmann-Verteilung gibt an, wie viele Teilchen welche Energie besitzen, und lässt sich mit Kugeln veranschaulichen, die in einer hügeligen Landschaft verteilt sind. Bei niedriger positiver Temperatur (linkes Bild), wie sie in unserem Alltag üblich ist, liegen die meisten Kugeln im Tal bei minimaler potenzieller Energie und bewegen sich kaum, haben also auch minimale Bewegungsenergie. Zustände mit niedriger Gesamtenergie sind also wahrscheinlicher als solche mit hoher Gesamtenergie – die übliche Boltzmann-Verteilung. Bei unendlicher Temperatur (mittleres Bild) verteilen sich die Kugeln in einer identischen Landschaft gleichmäßig über niedrige und hohe Energien. Alle Energiezustände sind hier gleich wahrscheinlich. Bei negativer Temperatur aber (rechtes Bild) bewegen sich die meisten Kugeln auf dem Hügel, an der oberen Grenze der potenziellen Energie. Auch ihre Bewegungsenergie ist maximal. Energiezustände mit hoher Gesamtenergie kommen also häufiger vor als solche mit niedriger Gesamtenergie – die Boltzmann-Verteilung ist umgekehrt.

In einer Vakuumkammer kühlten die Wissenschaftler zunächst rund 100 000 Kaliumatome auf eine Temperatur von wenigen milliardstel Kelvin. Das Vakuum isolierte die Atome zugleich thermisch von der Umwelt. Dann fixierten die Experimentatoren die nahezu bewegungslosen Atome mittels eines optischen Gitters, das aus gekreuzten Laserstrahlen besteht. Die Teilchen verteilten sich darin regelmäßig und waren zudem in ihrer Bewegung eingeschränkt. Da die Definition der Temperatur allerdings die gesamte Energie der Teilchen berücksichtigt und nicht nur deren Dynamik, setzten die Forscher auch der potenziellen Energie eine Obergrenze. Stellt man sich die Atome beispielsweise als Kugeln vor und das optische Gitter als einen Pappkarton, in dem man normalerweise Eier lagert, hievten die Wissenschaftler die Teilchen sozusagen auf die Spitzen des Eierkartons und hinderten sie daran, herunterzurollen. "Die Energieschranke macht das System stabil", erklärt Simon Braun, Doktorand in der Arbeitsgruppe.

Die Arbeit der Physiker könnte unter anderem für Kosmologen interessant sein. Denn das System weist Parallelen zur so genannten Dunklen Energie auf. Diese rätselhafte Kraft bringt den Kosmos offensichtlich dazu, sich immer schneller auszudehnen, obgleich das Universum auf Grund seiner Schwerkraft eigentlich kollabieren müsste. In der Atomwolke gibt es ein ähnliches Phänomen: Das Experiment beruht unter anderem darauf, dass sich die Atome anziehen und damit ein negativer Druck herrscht. Die Wolke sollte daher eigentlich in sich zusammenfallen, wegen ihrer negativen Temperatur tut sie dies aber eben nicht. Sie bleibt vom Kollaps ebenso verschont wie das Universum.

Eine weitere verblüffende Konsequenz von Materie bei negativer absoluter Temperatur ist, dass man mit ihrer Hilfe zum Beispiel Motoren bauen könnte, deren Effizienz mehr als 100 Prozent beträgt, ohne dass der Energieerhaltungssatz verletzt wird. Bei einem "normalen" Prozess heizt sich das kältere Medium zwangsläufig auf, was die Effizienz limitiert. Ist das heiße Medium dagegen bei einer negativen Temperatur, so kann – zumindest hypothetisch – gleichzeitig aus beiden Medien Energie entnommen werden, behaupten die Wissenschaftler.

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  • Quellen
Science 339, S. 52–55, 2013

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