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Artenschutz in Europa: Zum Geier

Die EU hat ein Medikament in der Viehhaltung zugelassen, das nachweislich Geier tötet. Sie führt ihre Artenschutzpolitik erneut ad absurdum, meint Daniel Lingenhöhl.
Daniel Lingenhöhl

Noch vor 25 Jahren war der indische Bengalgeier einer der häufigsten Greifvögel der Welt: Millionen von ihnen kreisten am südasiatischen Himmel und entsorgten zuverlässig die Kadaver von Rindern oder anderen Tieren. Selbst eine kulturelle Bedeutung hatten die Tiere, denn sie verzehrten auf den Türmen des Schweigens verstorbene Miglieder der Parsen, einer aus dem alten Persien stammenden religiösen Gemeinschaft. Heute ist dieses Ritual praktisch nicht mehr möglich, denn die Bengalgeier sind fast ausgestorben: 99,9 Prozent der Tiere verschwanden in den letzten Jahren, der aktuelle Bestand liegt bei nur noch 2500 Individuen.

Schuld an ihrem Niedergang ist ein entzündungshemmendes Medikament mit dem Wirkstoff Diclofenac, das seit den 1990er Jahren zunehmend in der Viehzucht bei verletzten Rindern eingesetzt wurde. Nehmen es die Aasfresser auf, sterben sie an Nierenversagen; schon geringste Mengen im toten Rind reichten aus, um ganze Geierkolonien verenden zu lassen. Nachdem dieser Zusammenhang bekannt wurde, verboten die südasiatischen Staaten den Einsatz des Mittels, das man zudem leicht durch ein Medikament mit dem Wirkstoff Meloxicam ersetzen kann.

Diese Zusammenhänge sollten auch den europäischen Behörden bekannt sein, zumal sich das Geiersterben immer wieder als eines der größten Ausrottungsereignisse in der Presse niederschlug. Dennoch hat die EU nun Diclofenac als veterinärmedizinische Arznei in Spanien und Italien zugelassen und so den Markt für das Mittel in Europa geöffnet. Mit Spanien gilt dies für ein Land, in dem alle vier auf dem Kontinent heimischen Arten (Bart-, Schmutz-, Gänse- und Mönchsgeier) und 80 Prozent der europäischen Geierpopulation leben. Ihre Zahl hatte sich in den letzten Jahren nach teils starken Rückgängen wieder erholt, doch gelten sie teilweise immer noch weltweit als im Bestand bedroht. Ein negatives Signal für die Artenschutzbemühungen – und das obwohl in der Vergangenheit Millionen Euro an EU-Geldern ausgegeben wurden, um die Geierarten zu erhalten.

Für den europäischen Naturschutz bedeutet die Diclofenac-Zulassung einen erneuten Rückschlag, nachdem die EU vor wenigen Jahren beschlossen hatte, dass tote Tiere wegen vermeintlicher Seuchengefahr aus der Natur entfernt müssten. Wissenschaftlich war dies nicht haltbar. Immerhin milderte die EU diese Vorgabe auch wieder etwas ab: Verendetes Vieh durfte nun in Spanien wieder in extra eingezäunte Futterplätze ausgebracht werden, nachdem bereits hunderte Geier verhungert waren. In anderen Regionen Europas sorgte die Verordnung dagegen weiterhin für bizarre Aktionen, etwa wenn Kadaver auf Almen gesprengt oder per Helikopter geborgen wurden, weil sie anderweitig nicht zu Tal gebracht werden konnten.

Mit ihrer Diclofenac-Zulassung setzt sich die Europäische Union über ihre eigenen Bestimmungen und Ziele zum Artenschutz und zum Erhalt bedrohter Vogelarten hinweg. Sie missachtet zudem ihre Gesetzgebung zu veterinärmedizinischen Arzneien, die zwingend vorsieht, dass ökologische Schäden durch die Medikamente vermieden werden. Sie handelt wider alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zweifelsfrei belegen, dass Diclofenac Geiern bereits in sehr geringen Dosen schadet. Und sie übersieht, dass eine alternative entzündungslindernde Arznei verfügbar ist, die sich in Südasien bereits bei massenhaftem Einsatz als sicher und gut erwiesen hat. Selbst die Argumentation, dass der Einsatz von Diclofenac in Europa nicht mit Indien oder Nepal vergleichbar sei, weil sich die Viehzucht hier anders organisiert und auf ein überwachtes Umfeld oder Ställe konzentriert, greift nicht: Gerade in Spanien und Italien findet die Haltung von Rindern noch sehr oft auf weitläufigen Weiden statt, wo kranke Tiere auch verenden und nicht immer schnell beseitigt werden.

Sollte es erneut zu einem Geiersterben kommen, trifft das zumindest in Spanien den Tourismus. Geierkolonien und Futterplätze sind mittlerweile Attraktionen, die nicht nur Ornithologen anziehen. Sterbende Vögel wollen die Besucher dagegen wohl eher nicht sehen. Außerdem gibt die EU mit ihrer Zulassung auch international ein schlechtes Vorbild ab: Nachdem sich die südasiatischen Länder dazu entschlossen haben, nur noch das etwas teurere Meloxicam zuzulassen, muss sich diese Politik für sie wie ein Nackenschlag anfühlen. Mit Afrika hat sich wiederum ein Ersatzmarkt für Diclofenac eröffnet, auf dem Artenschützer nun vehement dagegen angehen, dass sich der Einsatz des Mittels ausbreitet und die dortigen – schwindenden – Geierpopulationen weiter bedroht.

Angesichts der zu erwartenden negativen Folgen muss sich die Europäische Union auf ihre eigenen Vorgaben und Richtlinien besinnen – und die Zulassung von Diclofenac in der Tiermedizin zurücknehmen.

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