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Astrometrie: Erbsenzähler im All

Milliarden Sterne stehen allein in unserer Milchstraße: Sie alle zu vermessen, ist nun die Aufgabe von Gaia. Am Ende winkt die beste Karte unserer kosmischen "Nachbarschaft".
Gaia vor der Milchstraße

Das Feld der Astrometrie hat unter Weltraumforschern nicht den besten Ruf. Es gilt als dröge, als uninspiriert, als notwendiges Übel. Einfach nur die Position und Bewegung von Sternen zu vermessen, das klingt nach einer Aufgabe für Buchhalter und Fleißkärtchensammler. Wer Eindruck schinden will, widmet sich lieber den spannenderen Themen der Astronomie – dem Mysterium der Dunklen Materie, der Suche nach fernen Planeten oder der Frage nach dem Ursprung unseres Sonnensystems. Sterne zählen? Langweilig!

Doch eine unscheinbare Raumsonde soll nun das Gegenteil beweisen. Gaia heißt das rundliche Gefährt, das vergangene Woche gut verpackt in Französisch-Guayana angekommen ist. Von dort aus soll das Teleskop Mitte November ins All starten und wenige Monate später mit seiner Fleißarbeit beginnen. Der Auftrag lautet: Vermesse mindestens eine Milliarde Sterne. Gelingt Gaia dies, dann wird am Ende die größte, beste, präziseste dreidimensionale Karte der Milchstraße stehen.

"Es ist zwar schön, die Sterne zu betrachten, aber wir wollen mehr wissen", sagt Alvaro Giménez Cañete, Wissenschaftschef der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA. "Wir wollen wissen, wo sie sind, wie weit weg sie sind, wohin sie sich bewegen, aus was sie bestehen und wie sie sich entwickelt haben – und mit ihnen die gesamte Milchstraße." All diese Fragen hatten die Europäer bereits 1993 im Sinn, als sie die ersten Pläne für Gaia entwarfen. Bis dies Realität werden konnte, sollten allerdings 20 Jahre vergehen. "Gaia ist nicht weniger als der Traum eines Astronomen", sagt Giménez als er das Teleskop Ende Juni im Toulouser Reinraum des europäischen Raumfahrtkonzerns Astrium auf die Reise nach Kourou schickt. "Die Sonde wird uns all die Antworten auf all die offenen Fragen liefern, die wir zu Sternen haben."

Hipparcos' Vermächtnis

Dabei ist Gaia gar nicht der erste kosmische Buchhalter. Bereits im August 1989 hatten die Europäer eine eigene Astrometrie-Mission gestartet: Hipparcos durchkämmte vier Jahre lang den Himmel, katalogisierte etwa 2,5 Millionen Sterne, davon 120 000 mit hoher Präzision. Im Jahr 1997 veröffentlichte die ESA Hipparcos' Vermächtnis. Seine Karten sind noch immer in Gebrauch.

Gaia | Der Hochleistungssatellit Gaia soll eine Milliarde Sterne in unserer Milchstraße vermessen. Mitte Dezember 2013 macht er sich auf die Reise.

Mit ein paar Millionen Sternen will sich Gaia indes nicht zufrieden geben. "Verglichen mit Hipparcos werden wir hundertmal so genau sein und 10 000-mal so viele Sterne katalogisieren", sagt Giménez. Möglich machen soll das die größte Digitalkamera, die jemals ins All geflogen ist: Die drei wissenschaftlichen Instrumente an Bord von Gaia teilen sich einen Bildsensor, der sich aus 106 CCD-Sensoren zusammensetzt – lichtempfindlichen Bauteilen, die ganz ähnlich auch in Handykameras eingebaut werden. Zusammen bringen es die Detektoren auf knapp eine Milliarde Pixel, etwa 50-mal so viel wie moderne Spiegelreflexkameras.

Die Auflösung allein macht aber noch kein gutes Teleskop aus. Das Innenleben der zylinderförmigen Sonde, die im Toulouser Reinraum auf einem mobilen Podest ruht, besteht deshalb aus Siliziumkarbid, einer besonders stabilen und widerstandsfähigen Keramik. "Auch wenn die Sonde 3,5 Meter lang ist, dürfen sich ihre Bauteile um maximal ein paar Mikrometer verschieben", sagt Vincent Poinsignon, Projektmanager beim Gaia-Hersteller Astrium. Auf bewegliche Bauteile, die die Vermessung des Weltalls stören könnten, haben die Ingenieure bewusst verzichtet. Seine Position regelt Gaia stattdessen mit Kaltgas-Triebwerken – kleinen Düsen, die ihren Schub so genau kontrollieren können, dass pro Sekunde lediglich 1,5 Mikrogramm Stickstoff ins All geblasen werden. "Es hat mehr als sechs Jahre gedauert, bis wir dieses hochgenaue Steuerungssystem entwickelt hatten", sagt Poinsignon.

Auch der Einsatzort des Weltraumteleskops soll seinen Beitrag zu möglichst stabilen Bildern liefern. Nach dem Start mit einer russischen Sojus-Rakete und einer einmonatigen Reise soll sich die 2,1 Tonnen schwere Sonde im Lagrangepunkt L2 niederlassen – einem 1,5 Millionen Kilometer vom Startplatz entfernten Ort, an dem sich die Fliehkräfte aus der Umlaufbahn und die Anziehungskräfte von Sonne, Erde, Mond weitgehend gegenseitig aufheben. Versteckt hinter einem ausfahrbaren, zehn Meter großen Sonnenschirm soll Gaia dort stets eine Temperatur von minus 113 Grad Celsius behalten.

Das schärfste Auge im All

All das ist nötig, um dem Weltraum-Geodäten zu seinem scharfen und besonders genauen Blick zu verhelfen: Das menschliche Auge kann Sterne mit einer, wie Astronomen es nennen, scheinbaren Helligkeit von sechs Magnituden ausmachen. Hipparcos hat Objekte vermessen, die 250-mal dunkler waren. Gaia soll sogar noch 400 000-mal schwächere Sterne katalogisieren.

Die Position der hellsten Objekte, etwa 50 Millionen Sterne, kann dabei mit einer Genauigkeit von sieben Milliardstel Grad bestimmt werden. Das ist, wie die ESA-Vertreter in Toulouse stolz erzählen, als würde man ein Haar in tausend Kilometern Entfernung erkennen, oder einen Euro auf der Oberfläche des Mondes.

Um ihre Fleißaufgabe wie geplant zu erledigen, hat Gaia drei Instrumente an Bord. Herzstück ist die optische Kamera, die den Himmel Stück für Stück fotografieren soll. Im Laufe der Mission, die auf mindestens fünf Jahre angelegt ist, wird jeder Stern somit gut 70-mal ins Visier genommen. Das reduziert nicht nur das Risiko etwaiger Fehler, es ist auch die einzige Möglichkeit, um die Entfernung eines Sternes präzise zu bestimmen: Wer seinen ausgestreckten Finger einmal nur mit dem rechten und dann nur mit dem linken Auge betrachtet, wird feststellen, dass sich der Finger vor dem Hintergrund scheinbar bewegt. Der Effekt, Parallaxe genannt, fällt umso deutlicher aus, je geringer der Abstand zwischen Finger und Auge ist.

Auf ihrer Bahn um die Sonne erlebt Gaia das gleiche Phänomen. Die Sterne scheinen sich zu bewegen und einer kleinen Ellipse am Himmel zu folgen. Diese Verschiebung macht aber selbst für nahegelegene Sterne (die noch immer 40 Billionen Kilometer von der Erde entfernt sind) lediglich 0,05 Prozent des Vollmonddurchmessers aus. Deshalb muss Gaia nicht nur äußert präzise hinschauen, ihr eigener Ort muss auch auf 150 Meter genau bekannt sein. Im Lauf der Mission vermisst deshalb ein irdisches Teleskop fortwährend die Position des kosmischen Vermessers. Nur so ist es möglich, die Koordinaten der nächsten Sterne mit einer Genauigkeit von 0,01 Promille zu bestimmen.

Die Farbe der Sterne

Einen Teil der aufgefangenen Photonen wird Gaia zudem nutzen, um die Farbe der Sterne zu bestimmen: Mithilfe eines Fotometers lassen sich daraus Temperatur, Helligkeit, Zusammensetzung und Masse ermitteln. Der Rest des Sternenlichts wird in einem engen Wellenlängenbereich in seine Bestandteile zerlegt. Die dabei sichtbare Spektrallinie, eine Art Fingerabdruck des Sterns, verrät die Geschwindigkeit, mit der er sich auf Gaia zu oder von ihr weg bewegt. "Am Ende werden wir eine dynamische Karte der Milchstraße haben, die uns die Bewegung jedes Sternes zeigt, und die uns auch erlaubt, viele tausend Jahre zurückzuspulen", sagt Francois Mignard, Gaia-Astronom vom Observatoire de la Côte d'Azur in Nizza.

Und genau hier werden die Daten auch für jene Forscher interessant, die Astrometrie ähnlich spannend finden wie ihre jährliche Steuerklärung: Weit in die Vergangenheit zurückreichende Simulationen auf Basis des Gaia-Zensus können zum Beispiel erklären, ob die Milchstraße einst kleinere Galaxien verschluckt hat. Sie können Hinweise auf die Entstehung der Spiralarme liefern. Sie können zeigen, wie sich die hypothetische Dunkle Materie auf die Dynamik der Milchstraße auswirkt.

Mignard rechnet zudem damit, dass Gaia 5000 ferne Planeten von der Größe eines Jupiters entdecken wird: Da solche Exoplaneten an ihren Sternen zerren, sollten sich diese Bewegungen in Gaias Daten niederschlagen. Auch mehrere zehntausend Asteroiden und ebenso viele Braune Zwerg, die zu massearm sind, um das Sonnenfeuer zu entfachen, könnte das Teleskop aufspüren. Einfach wird das allerdings nicht. Um eine Milliarde Sterne – oder ein Prozent der Milchstraße – innerhalb von fünf Jahren zu vermessen, muss Gaia an jedem Tag etwa 40 Millionen Sterne katalogisieren. 50 Gigabyte an Daten kommen dabei zusammen. Sie müssen sortiert, verarbeitet und zur Erde gefunkt werden. Sechs Rechenzentren sollen sich dort um die Datenflut kümmern. Sie müssen sich während der Lebenszeit von Gaia mit vermutlich einem Petabyte (einer Million Gigabyte) an Informationen herumschlagen – so viel wie auf 200 000 randvoll beschriebene DVD passt.

Allein die Datenverarbeitung wird in den kommenden sieben Jahren bis zur Veröffentlichung der dreidimensionalen Gaia-Karte mindestens 200 Millionen Euro kosten. Die Mission selbst, die eigentlich schon im Oktober 2011 hätte abheben sollen, schlägt mit 740 Millionen Euro zu – 16 Prozent mehr als ursprünglich veranschlagt. Für ESA-Wissenschaftschef Alvaro Giménez Cañete, der Gaia in Toulouse als sein "Baby" bezeichnet, ist das trotzdem gut angelegtes Geld. Die Mehrkosten, die zu einem großen Teil auf Preissteigerungen bei der Rakete zurückgehen, seien noch im Rahmen, der kosmische Erbsenzähler sei jeden zusätzlichen Euro wert. Astronomen werden dem zustimmen, allenfalls eine Gruppe dürfte es geringfügig anders sehen: die irdischen Buchhalter in der ESA-Zentrale.

Offenlegung: Die Europäische Raumfahrtagentur ESA hat die Reisekosten zur Gaia-Präsentation in Toulouse übernommen.

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