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Ein Parforceritt durch die nächsten 40 Jahre

Futuristische Illustrationen, spektakuläre Fotos und übergroße, ins Auge stechende Überschriften machen beim ersten Blättern klar: Es geht um Visionen für die Zukunft. Das ist nicht jedermanns Sache. Um diejenigen Leser, die es in dieser Hinsicht mit Altkanzler Helmut Schmidt halten ("Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen"), nicht gleich zu verlieren, stellt Ulrich Eberl an den Anfang seines Werks ein Kapitel über die Zukunftsforschung. Nicht um unseriöse Prophezeiungen gehe es, sondern darum, mit Blick auf Kommendes in die heutigen Labore zu lugen: "An welchen Technologien die Entwickler heute arbeiten, das bestimmt zum großen Teil die Welt, in der wir leben werden." Und er zitiert Einstein: "Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich den Rest meines Lebens zu verbringen."

Eberl versteht sein Metier. Ist er doch im Hauptberuf "Leiter Kommunikation Innovation & Technik" beim Branchenriesen Siemens und Chefredakteur des hauseigenen Zukunftsmagazins "Pictures of the Future". Sein neues Buch basiert zum großen Teil auf seinen dort veröffentlichten Beiträgen – woraus er keinen Hehl macht. Insofern gerät das Buch nebenbei zur willkommenen Marketingaktion für seinen Arbeitgeber.

Die Inhalte entsprechen der Produktpalette des Konzerns: Energie und Klima nehmen gut die Hälfte des Buchs ein. Hinzu kommen Automatisierung, Chipanwendungen und Sensorik, Halbleiter-, Antriebs-, Beleuchtungs-, Gebäude-, Medizin-, Informations- und Kommunikationstechnik, Mobilität und Finanzdienstleistungen. Ein auf den privaten Kunden zugeschnittenes Kapitel bietet einen bunten Strauß von innovativen Haushaltsgeräten und Energie sparender Beleuchtung über Sicherheitstechnik bis hin zu internationalen Geldanlagen. Immer wieder legt Eberl ein Thema vorübergehend ab, um es an anderer Stelle fortzuentwickeln.

Vielleicht ist das Kapitel "Bauernhof im Wolkenkratzer" typisch für die Vorgehensweise des Autors. Eingangs geht es darum, wie die Ernährung für die 6,5 Milliarden Menschen bereitzustellen ist, die 2050 in Städten leben werden. Hier sieht Eberl großzügig über die technischen Probleme der 30-stöckigen Hochhäuser hinweg, die Essbares unmittelbar in der Nähe des Konsumenten produzieren sollen (siehe auch Spektrum der Wissenschaft 4/2010, S. 72), und stürzt sich lieber mit Pestiziden, Hormonen und Gammelfleisch auf ethisch-soziale Probleme. Aus einer Diskussion über die Lebensmittelpreise von 1970 bis heute leitet er einen Trend zum Billignahrungsmittel her und kommt dann über Ausbeutung in den Entwicklungsländern und marktbeherrschende Konzerne schließlich zum fairen Handel. "Zwar ist kaum anzunehmen, dass 2050 der Großteil der Waren unter fairen Bedingungen produziert werden wird", prophezeit Eberl, doch müsse und könne darüber der Verbraucher entscheiden.

Handfester, technischer ist der nachfolgende Abschnitt, in dem es um RFIDTags geht. Mit ihrer Hilfe würde sich die Nahrungsmittelkette vom Tier bis auf den Teller verfolgen lassen (Spektrum der Wissenschaft 5/2008, S. 92, und 6/2009, S. 92). Der Siemens-Kommunikator erläutert zwar den Begriff RFID, verschweigt aber, dass die Abkürzung ("Ahreffeidih") für radio frequency identification steht. Da hilft auch das grundsätzlich lobenswerte Stichwortverzeichnis nicht weiter.

Im selben Kapitel ergeht Eberl sich noch im Welthandel, vergleicht die Wirtschaftleistung der großen Weltregionen und landet (für den Leser unerwartet, aber irgendwie schlüssig) bei Terrorismus, Klimawandel und den "Zockern im Weltfinanzkasino". Für 2050 fordert er mehr Kontrolle und Transparenz der globalen Finanzströme. Und die Menschen sollen "Social Business" treiben und andere mit Leidenschaft und Überzeugung mitnehmen. Das nimmt man dem Autor ab, steht er doch selbst als Beispiel dafür.

In atemlosem Galopp streift er Klima und Energie, Wirtschaft, Produktion, Dienste und Geld, Computer, Roboter, Autos, Ernährung und Gesundheit, Bildung und soziales Miteinander. Und immer hat er eine Erklärung bei der Hand, wie etwas im Prinzip funktioniert und wie es damit weitergehen könnte.

Offensichtlich hat alles mit allem zu tun. Da verschmäht der Autor auch scheinbar Nebensächliches nicht und erklärt, dass zum Durchbruch einer Innovation nicht nur die blanke Idee vonnöten ist, sondern auch moderne Maschinen und Anlagen einschließlich einer leistungsfähigen Informationsund Kommunikationstechnologie, ein innovationsfreundliches Klima in Politik und Öffentlichkeit sowie begabte und gut ausgebildete Menschen. Und diese Menschen haben wieder ihre ganz eigenen Probleme. Sie besitzen jeder für sich nur das eine Leben und wollen es lange und rechtschaffen nutzen. Dafür müssen sie gesund älter werden. Womit wir beim nächsten Themenkreis sind …

Eberl kennt sich einfach mit allen Themen aus und will auch keines auslassen. Das ist nicht nur von Vorteil. So schlägt er dem Leser oft Begriffe um die Ohren, die dem Technikliebhaber zwar schon mal untergekommen sind, einem Jugendlichen oder gar einem Kind eher nicht. Themenfülle geht manchmal vor Tiefgang. Hin und wieder sehnt man sich nach einer Hintergrundinformation oder einem Literaturhinweis.

Wie auch andere Vertreter des Genres befleißigt sich dieses Buch einer sachlich-objektiven, technischen und bisweilen trockenen Sprache. Da vermisst man gelegentlich etwas Lockerheit und einen plaudernden Tonfall.

Meinem 13-jährigen Neffen würde ich das Buch nicht auf den Tisch legen – es würde seine Geduld überfordern. Aber mir selbst schon, um hin und wieder darin herumzublättern, meine Überzeugung bestätigt zu sehen, wie sehr doch die Probleme der Gegenwart miteinander zusammenhängen, und mich daran zu erfreuen, wie (bei Siemens!) an Lösungen und Auswegen für die Zukunft getüftelt wird.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 7/2011

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