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Roulett und Religion

Das Buch fängt ganz wissenschaftlich und solide an mit einer Einführung in die Spieltheorie. Pierre Basieux, studierter Mathematiker und Philosoph, seit 1990 selbstständiger Unternehmensberater, geht dann über zu den Anwendungen der Spieltheorie in der Realität und zum Schluss weit über das Thema hinaus zu philosophischen Gedanken. Ein angemessenerer Untertitel wäre "Mein Weltbild auf Grundlage erkenntnisphilosophischer Aspekte der Naturwissenschaften, mit besonderer Berücksichtigung einer Religionskritik".

Aber der Reihe nach. Im ersten und größten Teil des Buchs geht es um "Spiele in vitro", also in der von allem Firlefanz befreiten Reinform, in der sie der Mathematiker zu analysieren pflegt. Ein Spiel besteht aus einer Menge zulässiger Zustände (dem "Spielraum") und Vorschriften zum Übergang zwischen diesen Zuständen (den "Spielregeln"). Die Spieler ("Akteure") beleben den Spielraum durch Handlungen und Strategien mit dem Ziel, eine bestimmte Auszahlung – in Geld, Prestige oder anderen Werten – zu maximieren.

Auf dieser Grundlage geht es nun um Spiele wie Schere–Stein–Papier (Knobeln), Schach, Roulett, Black Jack und Poker. Quasi spielerisch vermittelt uns Basieux zusammen mit den Spielregeln Fachausdrücke wie "Bimatrix", "Nullsummenspiel", "Gleichgewicht" und "Spiel mit vollständiger Information". Wir erfahren, dass das klassische Roulett unbesiegbar ist und dass es beim Schach eine Gewinnstrategie gibt. Das Spiel bleibt nur deshalb spannend, weil niemand sie kennt. Außerdem wird uns Mathematik als ein, wenngleich wenig beliebtes, Spiel vorgestellt. Es besteht darin, Aussagen über mathematische Objekte mit den Regeln der Logik aus einem System angenommener gültiger Grundannahmen (Axiome) abzuleiten.

Für endliche Zweipersonen-Nullsummenspiele, also Spiele mit zwei Akteuren, bei denen die Summe der Gewinne des einen gleich der Summe der Verluste des anderen ist, gibt es stets eine optimale gemischte Strategie: Jeder Spieler kann seine Mindestauszahlung maximieren oder, was auf dasselbe hinausläuft, den Maximalgewinn des Kontrahenten minimieren. Gemischte Strategien enthalten im Gegensatz zu den reinen Strategien Zufallszüge.

Die Allgemeinheit des mathematischen Spielbegriffs erlaubt eine Vielzahl von Anwendungen in Wirtschaft, Politik, Biologie, Physik und Psychologie. Ein prominentes Beispiel ist das Gefangenendilemma, das auch in abgeänderter Form in vielen Lebenssituationen auftritt (Spektrum der Wissenschaft 2/1998, S. 8). Vertrauen ist gut für beide Beteiligten, aber noch besser ist es für jeden, den anderen übers Ohr zu hauen. Was ist die beste Strategie beim einmaligen und beim mehrmaligen Spiel, wenn es nur um vorteilhafte Auszahlung geht? Wir lernen: Gier lohnt nicht, und Erfolg hängt nicht von kurzfristigen Vorteilen ab.

Optimierungsaufgaben aus der Wirtschaft können als Einpersonenspiele aufgefasst werden. Hier geht es für den einzigen Spieler darum, das Maximum aus der "Natur" herauszuholen; die aber hat ihrerseits keine Strategie. Wenn das Spiel darin besteht, den Partner fürs Leben zu finden, ein einmal verschmähter Kandidat nie wieder zu haben ist und einige weitere Zusatzbedingungen erfüllt sind, liefert die Mathematik ein sehr seltsames Ergebnis (Spektrum der Wissenschaft 5/2004, S. 102, und 6/2005, S. 78): Weise zunächst ungefähr 37 Prozent aller Kandidaten ab und nimm den nächsten, der besser ist als alle Vorgänger. Zu diesem Ergebnis kann man sicherlich geteilter Meinung sein.

Basieux zitiert auch die unrealistischen spieltheoretischen Fantasien der US-Armee im Irakkrieg 2003. Man wollte eine "Revolution in Militärangelegenheiten" vollziehen, indem man den Krieg führt wie eine Supermarktkette. Der Autor macht klar: "Überhaupt liefert die Spieltheorie nur selten Lösungen. Dafür vermittelt sie anhand von überschaubaren Modellen häufig Einsichten in wesentliche Eigenschaften von Interessenkonflikten."

Im zweiten Teil geht es nicht mehr um ideale Spielsituationen und das Spiel als Modell, sondern um "Spiele in Wirklichkeit". Sind die Chancen beim Roulett oder Lotto im wirklichen Leben tatsächlich so schlecht wie in der Theorie? Nicht ganz. Zwar kann man beim Lotto die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser nicht erhöhen, aber immerhin die Gewinnerwartung, indem man auf wenig beliebte Kombinationen tippt (Spektrum der Wissenschaft 3/ 2002, S. 114). Beim Roulett hingegen kann man mit Hilfe der Statistik mechanische Unzulänglichkeiten des Geräts oder Regelmäßigkeiten im Verhalten des Croupiers aufspüren und nutzen.

Auch die Börse ist eine Art Kasino. Die wichtigsten Erkenntnisse: Der Aktienkurs eines Unternehmens reflektiert nicht (nur) dessen Geschäftsaussichten; und über Kursentwicklungen kann unter bloßer Verwendung vergangener Kursentwicklungen nichts ausgesagt werden. Die Annahme vom rationalen Verhalten der Börsenteilnehmer sei eine Fiktion.

Ausgehend vom so genannten Ultimatumspiel (Spektrum der Wissenschaft 3/2002, S. 52) kommt Basieux zu einem wichtigen Punkt: Der Mensch ist kein nur rational handelndes Wesen im Sinn eines Homo oeconomicus, daher sei die ideale normative Spieltheorie durch eine realistische deskriptive zu ersetzen, die sich am tatsächlichen Verhalten des Menschen orientiert. Mathematische Modelle, die zum Beispiel den Fairnessgedanken enthalten, würden besser funktionieren als die klassische Spieltheorie.

Im letzten Kapitel dieses Teils "Spiele um Regelfindung" behandelt Basieux die Denkprinzipien der Naturwissenschaften, wirtschaftspolitische Regeln und die Lebensregeln der Religionen – letztere sehr eigenwillig. Zwischen Frömmigkeit und doktrinärem Fundamentalismus bestehe ein fließender Übergang, und aus der Bibel – einer zusammenhanglosen Schrift, in der ein grausamer Rächergott beschrieben wird – komme sicherlich keine Ethik und Moral. Eine sachliche Auseinandersetzung sieht anders aus.

Im dritten und letzten Teil geht es schließlich um die von Kurt Gödel bewiesene Unvollständigkeit der Mathematik, die Ablösung des mechanistischen Weltbilds durch die Quantenmechanik und das Streben nach Erkenntnis im Allgemeinen. Diese Vielfalt macht das Buch überraschend, kurzweilig und spannend, aber auch unübersichtlich und stellenweise angreifbar.

Wenn man den Glauben der Vernunft wie gefordert gänzlich unterstellt, hebt man dann ihn nicht auf? Das haben bereits mittelalterliche Philosophen wie Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin erkannt, die – jeder auf seine Art – eine Ordung entwickelten, in der Vernunft und Glaube im Einklang stehen sollen. Würde man also, so wie es Basieux gerne tut, unter Verwendung philosophischer Autoritäten argumentieren, käme man hier sehr schnell auch zu einem ganz anderen Ergebnis.

An anderer Stelle äußert Basieux einerseits humanistische Gedanken, behauptet aber andererseits, dass das Handeln der Menschen maßgeblich durch Egoismus und Furcht bestimmt sei; und ab und an scheint sich bei ihm Fairness aus eigennützigen Motiven zu erklären.

Wer über diese Schwachstellen hinwegsieht, hat immer noch eine interessante, spannende und vor allem abwechslungsreiche Hinführung zur Spieltheorie, ihren Anwendungen und ihren Ergebnissen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2010

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