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Ansichten vom Gehirn

Am Schluss der Tagung beschrieb ein Teilnehmer seinen Eindruck, den wohl viele Anwesende mit ihm teilten: Er sei hingerissen von den schon fast unüberschaubaren Befunden über einzelne Genfunktionen bei Hirnleistungen. Doch ebenso überwältige ihn, wie verschwindend wenig wir dennoch über unser Gehirn wissen.

Diesen Kontrast bewusst zu machen und zur Diskussion zu bringen, dürfte eines der Ziele der Veranstaltung gewesen sein, die am ersten November-Wochenende am EMBL, dem Europäischen Molekularbiologischen Labor, in Heidelberg stattfand. Das diesjährige internationale Treffen über Schnittpunkte naturwissenschaftlicher Forschung mit Belangen der Gesellschaft galt dem Themenkreis: Gene, Gehirn/Geist (Verstand) und Verhalten. Es führte namhafte Grundlagenforscher verschiedener Fachrichtungen zusammen, von der Molekularbiologie bis zur Entwicklungspsychologie, Philosophen und Sozialwissenschaftler und nicht zuletzt Ethiker aus Bio- und Humanwissenschaften.

Entsprechend erstklassig waren viele der Vorträge, entsprechend lebhaft und kontrovers auch die daran anschließenden Diskussionen. Nicht nur wegen der Dichte der präsentierten Inhalte, sondern auch wegen der Kontraste waren die Zuhörer stark gefordert. Stellte ein Forscher etwa ein einzelnes Gen und dessen verblüffende, tatsächlich weit reichende Funktionen in den Vordergrund – und ließ das Auditorium über klar herausgearbeitete Zusammenhänge staunen –, erörterte vielleicht schon die nächste Rednerin, wie unübersichtlich die unermesslichen Einflüsse sind, die ein junges Gehirn erlebt.

Einige Wissenschaftler bekannten sich zu bewusst reduktionistischen Ansätzen, um beispielsweise molekulare Mechanismen von Drogensucht erkennen und gezielt bekämpfen zu lernen – in diesem Fall zunächst auf einem viel versprechenden Umweg über kokainsüchtige Fliegen. Andere versuchten besonders den Bioethikern aus philosophischer Sicht zu vermitteln, welche Bereiche des Denkens und Menschseins, vor allem der schon vorliegenden Denkgebäude, eine naturwissenschaftlich geprägte Herangehensweise außer Acht lässt.

Aber auch einige der Hirnforscher, ob Genetiker oder Neurophysiologen, sprachen über die bislang nicht – in mancher Argumentation nie – greifbare Komplexität des Hirngeschehens im Bereich ihres Forschungsfelds. Es ging dabei nicht nur um die höchsten Ebenen wie die Suche nach dem Bewusstsein, sondern öfter noch um die Grundlagen aller Hirntätigkeit. Ein Genetiker etwa malte aus, dass er und seine Fachkollegen erst heute allmählich begreifen, dass sie sich den Zusammenhang zwischen Gen und Funktion bis vor kurzem viel zu einfach vorgestellt haben. Schon die Gene selbst scheinen einander gegenseitig so vielfältig zu beeinflussen und sich überdies von außen beeinflussen zu lassen, dass bei Genfehlern Vorhersagen über Störungen meist völlig unmöglich sind. Ähnlich große Wechselwirkungen hoben Physiologen und Psychologen hervor.

Zugleich kam die angewandte Forschung zu Wort. Beeindruckend waren erste Ergebnisse über so genannte hyperaktive, aufmerksamkeitsgestörte Kinder, die heute immer häufiger Medikamente erhalten und sich damit angepasster benehmen. Diese Kinder erleben täglich den Umschwung zwischen beiden Verhaltenszuständen. Sie wissen oft nicht mehr recht, was eigentlich ihre wahre Persönlichkeit ist, das unruhige, „böse“ Kind oder aber das künstlich beruhigte brave und angepasste. Manchen ihrer Eltern ergeht es kaum anders. An Schultagen ist das mit Medikamenten behandelte Kind das echte, am Wochenende das andere – es sei denn, ein Sportwettkampf steht an: Dann meinen einige Väter, ihr Junge zeige sein wahres Wesen erst, wenn er die Pillen genommen hat.

Die Kontroversen von früher, wie viel Anteil die Gene, wie viel die Umwelt an der Entwicklung und am Verhalten haben, führen Forscher längst nicht mehr. Die Konferenz am EMBL Heidelberg vertiefte das Verständnis dafür, warum alle wissenschaftlichen Ebenen gefragt sind, wollen wir unser Gehirn und seine Leistungen begreifen. Und unser Gehirn ist so angelegt, dass diese Forschungen sicherlich nie zu einem Ende kommen werden. Im Gegenteil: Die Tagung dürfte viele Teilnehmer zu neuen, erweiterten Fragestellungen angeregt haben.

Adelheid Stahnke

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