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Der Gedankenfahnder

Der britische Neuropsychologe Adrian Owen glaubt, dass manche Wachkoma-Patienten noch bei Bewusstsein sind. Deshalb fordert er den Einsatz von fMRT bei der Diagnose.
Adrian Owen
Gelegentlich verwenden wir Begriffe, die auf den ersten Blick paradox erscheinen – das Wort »Wachkoma« zum Beispiel. Wach und zugleich im Koma, wie soll das gehen? Gemeint ist ein Zustand, in dem Patienten zwar immer wieder für längere Zeit die Augen öffnen, aber dennoch keine Hinweise auf Bewusstsein zeigen.
Wissenschaftler fragen sich, was eigentlich im Gehirn von Wachkomapatienten geschieht. Das erforscht Adrian Owen in Cambridge mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT). Vor gut einem Jahr veröffentlichte der Forscher im Fachmagazin Science eine Studie zu einer 23-jährigen Frau, die laut Diagnose im Wachkoma lag. Nach Owens Ansicht ergaben fMRT-Messungen jedoch Anzeichen von Bewusstsein bei der Patientin. Darüber entbrannte in der Fachwelt eine anhaltende Diskussion. Gehirn&Geist traf Adrian Owen in Berlin und bat ihn um eine Zwischenbilanz.


Herr Owen, wie kamen Sie dazu, Wachkoma-Patienten im Hirnscanner zu untersuchen?

Das war eigentlich Zufall. Als ich nach Cambridge kam, fragten mich Kollegen öfters um Rat in Sachen funktioneller Bildgebung. Ein befreundeter Mediziner hatte eine Patientin, die im Wachkoma lag. Als wir ihr im Hirnscanner Bilder von Verwandten zeigten, wurden diejenigen Gehirnareale aktiv, die Gesichter verarbeiten – was uns sehr überraschte. Ohne dieses Ergebnis hätte ich meine späteren Untersuchungen wahrscheinlich nie ins Auge gefasst.

1972 beschrieben zwei Pioniere der Wachkomaforschung, Bryan Jennett und Fred Plum, das Wachkoma noch als »Abwesenheit jeglicher Aktivität im cerebralen Cortex«.

Das ist ganz offensichtlich falsch. Schon Studien Ende der 1990er Jahre zeigten, dass Wachkoma-Patienten noch Stoffwechselaktivität im Gehirn aufweisen. Im Durchschnitt ist sie zwar um 60 Prozent gegenüber der normalen vermindert. Doch immerhin. Zum Vergleich: Bei einer Vollnarkose messen wir nur rund 50 Prozent des normalen Wertes, also nur wenig mehr. Dazu kommt, dass es sich bei Wachkomapatienten um eine extrem inhomogene Gruppe handelt, vor allem weil dieser Zustand von sehr verschiedenen Ereignissen ausgelöst werden kann: traumatische Hirnschädigungen, Hirnschlag oder auch Sauerstoffmangel. Den Wachkomazustand machen wir heute nicht mehr an der Hirnfunktion fest, sondern am Verhalten des Patienten.

Können Sie das am Beispiel der Patientin erläutern, über die Sie in Science berichteten?

Die Ärzte hatten eine Reihe standardisierter Verhaltenstests mit ihr gemacht – wie SMART und die Glasgow Coma Scale. Ein entscheidendes Kriterium in diesen Tests ist, ob der Patient »sinnvoll« auf äußere Reize reagiert, ob also das Verhalten einen Zusammenhang zur Stimulation zeigt. Ist das nicht der Fall, schließt man daraus, der Patient sei sich seiner Umgebung und seines Körpers nicht bewusst und liege im Wachkoma. Doch die Interpretation solcher Tests ist sehr schwierig: Die Patienten bewegen sich, geben Geräusche von sich und schneiden Grimassen. Dieses Verhalten kann bewussten Reaktionen ähneln. Umgekehrt sind manche bewusste Patienten körperlich nicht in der Lage »sinnvoll« zu reagieren – etwa weil sie gelähmt sind. So kommt es häufig zu Fehldiagnosen. Ich hoffe, unsere Methode kann dem künftig besser vorbeugen.

Wenn Sie die Frau baten, im Geiste Tennis zu spielen oder durch ihr Haus zu laufen, fanden Sie in der fMRT-Messung die gleiche Hirnaktivität wie bei gesunden Probanden, die dieselben Aufgaben erfüllten. Aber ist diese Messmethode nicht viel zu grob, um kognitive Vorgänge im Gehirn zu vergleichen?

Theoretisch ist fMRT tatsächlich ziemlich ungenau, denn die Aktivierung wird nur indirekt gemessen: über den verzögerten Blutfluss. Und nicht nur die zeitliche, auch die räumliche Auflösung ist mit zwei bis drei Millimetern noch recht bescheiden. Andererseits können wir die für bestimmte Funktionen verantwortlichen Hirnregionen wesentlich genauer abbilden, als mit allen anderen nicht-invasiven Mitteln – nur implantierte Elektroden wären noch genauer. Bei vielen dieser Patienten können wir außerdem kein Elektroenzephalogramm verwenden, weil Schädel und Gehirn oft stark geschädigt sind. Bei fMRT spielt das keine Rolle. Deshalb ist es für unsere Untersuchungen das Verfahren der Wahl.
Letztlich kommt es aber nicht darauf an zu zeigen, dass die Hirnaktivierung von Patient und gesunden Probanden identisch ist. Entscheidend ist vielmehr, dass eine ganz bestimmte Aktivität der motorischen oder für die räumliche Orientierung verantwortlichen Areale je nach Aufgabenstellung – Tennis spielen oder durchs Haus laufen – über längere Zeit aufrechterhalten bleibt. Das scheint mir das weit wichtigere Kriterium für bewusstes Erleben.

Was Kollegen bezweifeln.

Richtig. Einige Kritiker hantierten mit philosophischen Argumenten: »Dass sie im Kopf Tennis spielt, heißt noch lange nicht, dass sie bei Bewusstsein ist.« Unter anderen Umständen nehme ich mir gern Zeit für solche Diskussionen. Aber hier ging es darum, eine klinisch relevante Frage zu klären. Letzten Endes ist es viel wahrscheinlicher, dass die Frau bei Bewusstsein war, aber gewissermaßen eingesperrt in ihrem Kopf, als dass ihr Gehirn lediglich eine über 30 Sekunden anhaltende reflexartige Reaktion zeigt.

Was macht Sie so sicher?

Wir haben in verschiedensten Experimenten versucht, mit bewusstlosen gesunden Probanden zum gleichen Ergebnis zu kommen – ohne jeden Erfolg. Keiner schafft das – darauf würde ich Hab und Gut verwetten. Meiner Meinung nach kann diese Hirnaktivität nur dann entstehen, wenn sich jemand etwas bewusst vorstellt.

Die Patientin sollte nur passiv auf ihre Anweisungen reagieren. Sie hätten ihr stattdessen die Wahl zwischen mehreren Alternativen geben können, etwa um eine Frage zu beantworten: »Wenn sie Maria heißen, spielen sie bitte Tennis!«

Egal was sie tut – immer könnte jemand behaupten, das sei nur eine unbewusste automatische Reaktion. Irgendwo müssen Sie eine Grenze ziehen. Ich denke, in den nächsten Jahren werden wir weitere solcher Patienten haben, von denen einer Brain-Pong spielt – also über seine Hirnaktivität den Schläger eines Ping-Pong-Spiels steuert. Dann dürften sich die letzten Zweifel zerstreuen, ob unsere Patientin tatsächlich bei Bewusstsein war oder nicht.

Vielleicht sollte man etwas vorsichtiger von »kognitiven Funktionen« sprechen, statt von Bewusstsein?

Das meinten auch schon andere: Wir sollten keine Behauptungen über das Bewusstsein aufstellen, die den Anschein erwecken, wir verstünden dessen neuronale Basis. Uns ging es aber darum zu zeigen, dass die Patientin sich insofern der Umgebung bewusst war, als wir ihre Reaktion messen konnten. Das widerspricht der gängigen Definition von Wachkoma.

Überraschte Sie das Ergebnis?

Gar nicht so sehr – in der Tierphysiologie zum Beispiel verwenden wir Medikamente, die die Muskeln entspannen. Damit könnten wir auch einen Menschen vollständig lähmen. Das ist eine äußerst dramatische Erfahrung: Stellen Sie sich vor, sie wachen auf, können sich aber nicht bewegen. Sie stecken in ihrem Kopf fest. Ein Neurologe käme zu dem Ergebnis, dass Sie im Wachkoma liegen – obwohl Sie bei vollem Bewusstsein sind. Warum sollte dieser Zustand nicht auch natürlicherweise auftreten? Ich find das gar nicht so abwegig. Übrigens gibt es auch den entgegen gesetzten Fall: In einer Studie haben wir Anästhesie-Studenten betäubt – nur an denen darf man solche Experimente in Cambridge durchführen. Selbst wenn sie vollkommen bewusstlos sind, reagiert ihr Gehirn aber noch auf Sprache. Für mich ist ganz klar: Wir müssen neu überdenken, wie wir solche Hirnzustände beurteilen.

Wenn Patienten aus dem Wachkoma »erwachen«, geschieht das allmählich. War Ihre Patientin vielleicht in einem solchen Übergangsstadium?

Das ist schwer zu beantworten. Ich reagiere sehr empfindlich darauf, wenn jemand im Nachhinein unterstellt: »Die Diagnose war falsch.« Unsere Neurologen in Cambridge wissen, was sie tun, die Diagnose war nach den heutigen Kriterien korrekt. Dennoch war diese Frau meiner Meinung nach bei vollem Bewusstsein. Das zeigte sich aber erst im fMRT-Experiment. Jetzt – ein Jahr nach dem Unfall und sechs Monate nach dem Experiment – beobachten wir bei ihr gelegentlich bewusstes Verhalten, sie verfolgt Gegenstände mit den Augen. Die Diagnose lautet jetzt »minimal bewusst« – was meiner Meinung nach wiederum nicht angemessen ist. Denn sie könnte immer noch im Geiste Tennis spielen, andere solche Patienten sind dazu nicht in der Lage.

Sie fordern also neue Methoden für die Wachkomadiagnose?

Auf jeden Fall! Die heutigen Tests stammen aus einer Zeit, als funktionelle Bildgebung noch völlig unbekannt war und die Diagnose am Krankenbett erfolgte. Jetzt sollten fMRT-Messungen als Kriterium mit einfließen. Sie werden die bisherigen Tests, die nur das äußere Verhalten berücksichtigen, nicht ersetzen, aber ergänzen. Wie im Fall unserer Patientin käme man unter Umständen zu ganz anderen Schlüssen ...


Das Interview führte Vinzenz Schönfelder.
Den vollständigen Text finden Sie in Gehirn&Geist Oktober 2007.

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