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Ordnung im Gruppenzoo - der Beweis der eingeschränkten Burnsideschen Vermutung

Der Algebraiker Efim Zelmanov hat für den Beweis einer lange offenen Vermutung aus der Gruppentheorie 1994 die nobelpreisähnliche Fields-Medaille erhalten. Nun sind gewisse Gruppen mit Sicherheit endlich endlich.

Zu den Aufgaben eines Redakteurs gehört es, Wortwiederholungen zu eliminieren, damit der Leser nicht über überflüssige Wörter, Wörter, die die gedankliche Linie unterbrechen, oder den Krampf krampfhaft gesuchter Wortspiele stolpert. Wie jede derartige Vorschrift schränkt das Verbot der Wortwiederholung die Menge der zulässigen Texte und damit die Ausdrucksmöglichkeiten ein – zumindest im Prinzip.

Man stelle sich nun spaßeshalber einen übereifrigen Redakteur vor, der von zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden gleichen Wörtern nicht nur eines, sondern gleich beide streicht und diese Regel außer auf Wörter auch auf Buchstabenfolgen beliebiger Länge anwendet. Was bleibt unter solch gewaltsamer Bearbeitung von einem Text übrig?

Nicht mehr viel. Aus bitter wird bier; gefangengenommen verliert ein doppeltes gen und ein doppeltes m, so daß es zu gefanoen degeneriert. Messer schrumpft zunächst zu Meer und im zweiten Schritt dann zu einem kümmerlichen Mr. Wörter wie Anna, Otto oder Retter verschwinden über mehrere Zwischenstufen ins Nichts (auf den Unterschied zwischen Klein- und Großbuchstaben soll es hier nicht ankommen).

Nach derselben Logik könnte der wildgewordene Redakteur dem Nagel eine Anna voranstellen (denn Anna ist ja so gut wie nichts), aus AnnaNagel das doppelte na streichen und so schließen, daß Angel und Nagel eigentlich dasselbe seien. Allgemeiner kann man nach diesem Rezept stets zwei benachbarte Buchstaben vertauschen, so daß es auf ihre Reihenfolge nicht mehr ankommt.

Was bei sprachlichen Texten schierer Unfug wäre, kann in der Mathematik allerdings durchaus Sinn ergeben – zum Beispiel im Rahmen der Gruppentheorie. Eine Gruppe ist eine Menge, deren Elemente man nach gewissen Regeln miteinander verknüpfen darf. Dabei kommt es im allgemeinen gar nicht darauf an, was diese Elemente und die Verknüpfungsoperation eigentlich sind; es genügt, wenn die Rechenregeln für Gruppen, die sogenannten Gruppenaxiome, eingehalten werden.


Freie Gruppen

Ein Basisrezept zur Erzeugung einer Gruppe ist folgendes: Man nehme als Grundausstattung irgendwelche beliebigen Gegenstände, von denen man nichts weiter wissen muß als die Namen: a, b, c, ... Je zwei muß man zu einem dritten verknüpfen können, das ebenfalls zur Gruppe gehört, sagt das erste Gruppenaxiom. Man denkt sich die Verknüpfung als eine Art Multiplikation und schreibt sie entsprechend: Das Element, das durch Verknüpfung von a und b entsteht, heißt ab. Es kommt auf die Reihenfolge an: ab ist im allgemeinen nicht gleich ba. Durch wiederholtes Verknüpfen kann man Symbolketten beliebiger Länge erzeugen, zum Beispiel jeden erdenklichen sprachlichen Text, wenn die Grundausstattung (die sogenannten Erzeugenden der Gruppe) aus den Buchstaben des Alphabets – plus Zubehör wie Leerstellen und Satzzeichen – besteht. Wenn man schon nicht weiß, was die Erzeugenden sind, weiß man es von ihren Produkten (den Texten) noch weniger. Ein Buchstabe hat an und für sich auch keine Bedeutung, und ein Wort bezieht seine Bedeutung nicht aus seinen Buchstaben, sondern aus einer Konvention. Das schadet aber nicht; denn man ist im Rahmen der Gruppentheorie nicht an den Elementen interessiert, sondern nur an der Struktur ihrer Beziehungen untereinander. Die übrigen Gruppenaxiome haben keine naheliegende Entsprechung im Bereich der Texte. Es muß ein neutrales Element geben, eines, das, mit irgendeinem Element verknüpft, dieses nicht ändert. Man denkt wieder an die Multiplikation und schreibt das neutrale Element als 1, so daß die Regel lautet: x1=1x=x für jedes Element x der Gruppe. Man könnte einen leeren Text, der keinerlei Zeichen enthält, als Eins-Element bezeichnen. Die Verknüpfung muß assoziativ sein: (xy)z=x(yz). Wenn man erst x mit y und dann das Ergebnis mit z verknüpft, ergibt sich dasselbe, wie wenn man y mit z verknüpft und dann x mit dem Ergebnis. Für sprachliche Texte gilt im allgemeinen kein Assoziativgesetz, wie das Gegenbeispiel Mädchenhandelsschule zeigt. Schließlich muß die Gruppe zu jedem Element x ein Inverses enthalten, das den Effekt von x genau wieder aufhebt. Man pflegt es als x-1 zu schreiben. Schreibmaschinen mit Korrekturband haben Tastenkombinationen mit der inversen Wirkung eines Buchstabens. Wenn man Mist geschrieben hat und löscht der Reihe nach t, s, i und M, ist der Mist weg; das Inverse zu Mist ist also t-1s-1i-1M-1. Die Menge aller Texte, die man so aus den Erzeugenden a, b, c, ... zusammensetzen kann, mitsamt der beschriebenen Verknüpfung heißt die freie Gruppe über a, b, c, ... Sie ist unendlich, das heißt, sie enthält unendlich viele Elemente; denn die Länge eines Textes ist nicht begrenzt. Andererseits bleiben von der ganzen Vielfalt nur endlich viele Texte übrig, wenn man die oben genannte drastische Streichregel anwendet. Formal ausgedrückt: Man führt die Rechenregel ein, daß jedes Produkt eines Elements mit sich selbst (zweimal derselbe Text hintereinander) gleich dem neutralen Element sein soll. Das läuft auf dasselbe hinaus wie die Anweisung: Wenn zwei Elemente sich nur um ein wiederholtes Stück Text unterscheiden, packe man sie in denselben Sack und rechne fortan mit Säcken statt mit Einzelelementen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1996, Seite 18). Dabei finden sich auch entfernte Verwandte wie Motorboot und Barmann im selben Sack wieder; denn sie sind durch eine Kette unmittelbarer Verwandter miteinander verbunden.

Periodische Gruppen

Aus Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, interessieren sich die Algebraiker besonders für Gruppen mit derartigen Reduktionsregeln, allerdings etwas allgemeiner. Nicht schon das doppelte Auftreten eines Elements, sondern erst die drei-, vier-, allgemein die n-fache Wiederholung soll der Streichung anheimfallen: Es gelte xn=1 für jedes Gruppenelement x. Eine Gruppe mit dieser Eigenschaft heißt periodisch zum Exponenten n, denn unter den Potenzen jedes Elements kehren periodisch immer dieselben Werte wieder: x, x2, x3, ..., xn-1, 1, x, x2, ... Nun sollte man meinen, daß selbst unter einer derart gemilderten Streichungsregel die Ausdrucksmöglichkeiten mit einer begrenzten Anzahl von Buchstaben begrenzt seien. Jedenfalls vermutete 1902 der englische Mathematiker William Burnside (1852 bis 1927), Pionier der Gruppentheorie in seinem Lande, aus der freien Gruppe mit r Erzeugenden würden sich durch Säckepacken nach der Periodizitätsregel zum Exponenten n nur endlich viele Säcke ergeben. Ihm zu Ehren wird diese Säckegruppe heute als Burnside-Gruppe B(r,n) bezeichnet. Damit wäre das Problem für alle endlich erzeugten periodischen Gruppen erledigt gewesen, denn B(r,n) ist die größte unter ihnen. Genauer: Jede endliche periodische Gruppe zum Exponenten n mit r Erzeugenden ist isomorph einer Quotientengruppe von B(r,n), das heißt, man darf sie sich durch Säckepacken nach einer geeigneten Regel aus B(r,n) entstanden vorstellen.

Endlichkeit zweiter Klasse

Leider irrte Burnside. Nur für die Exponenten 2, 3, 4 und 6 ließ sich nachweisen, daß B(r,n) eine endliche Zahl von Säcken enthält (Bild). Dagegen haben die Moskauer Mathematiker Sergej Iwanowitsch Adjan und Pjotr Sergejewitsch Nowikow 1968 gezeigt, daß schon B(2,n) für große Werte von n unendlich ist; sogar von Texten aus nur zwei Buchstaben gibt es also für hinreichend milde Streichungsregeln eine unbegrenzte Vielfalt (und je mehr Buchstaben zugelassen sind, desto größer wird das Sortiment).

In der Folgezeit versuchte man von der Endlichkeit zu retten, was zu retten war. Wenn B(r,n) für bestimmte Werte von r und n unendlich ist, gibt es dann wenigstens andere periodische Gruppen mit denselben Parametern r und n, die nur eine endliche Zahl von Säcken enthalten? Und wenn ja, haben diese ein – endliches – Familienoberhaupt, von dem sie alle durch Quotientenbildung herleitbar sind? Das ist die eingeschränkte Burnsidesche Vermutung, in der Fachsprache ausgedrückt: B(r,n) hat einen eindeutigen maximalen endlichen Quotienten.

In den dreißiger Jahren erstmals formuliert und intensiv studiert, blieb diese Vermutung lange Zeit offen, bis Alexej Iwanowitsch Kostrikin, ebenfalls aus Moskau, 1959 einen Teilerfolg erzielte: Er bewies sie für den Fall, daß n eine Primzahl ist. In der Folgezeit waren Probleme vom Burnside-Typ die Domäne von Mathematikern aus Moskau und Nowosibirsk.

Aus dieser Schule stammt auch Efim Zelmanov (deutsche Transkription: Selmanow); nach langen Jahren in der Sowjetunion ist er jetzt, da Rußland Wissenschaftlern große Freiheit, aber kaum noch Geld gewährt, an vielen Stellen der Welt zu finden, meistens an der Universität von Wisconsin in Madison. Ihm gelang es 1989, den Beweis der Burnsideschen Vermutung auf alle Exponenten n auszudehnen; dafür wurde ihm 1994 auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß in Zürich die Fields-Medaille verliehen (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 22).

Die Gruppentheoretiker legen derart großen Wert auf die Eigenschaft der Endlichkeit, weil unter den endlichen Gruppen einigermaßen geordnete Familienbeziehungen bestehen und inzwischen auch bekannt sind (vergleiche "Die Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen" von Daniel Gorenstein, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1986, Seite 98). Dagegen herrschen unter den Gruppen mit unendlich vielen Elementen vergleichsweise anarchische Verhältnisse.

Aus der Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen folgt insbesondere, daß es genügt, die eingeschränkte Burnside-Vermutung für den Fall zu beweisen, daß n Potenz einer Primzahl ist; denn jede natürliche Zahl ist Produkt von Primzahlpotenzen, und man kann dank der Klassifikation von den Faktoren auf das Produkt schließen – sofern die Faktoren teilerfremd sind.


Wow!

Nun sind die Gruppen, um die es da geht, zwar endlich, aber alles andere als klein. Um die Anzahl ihrer Elemente abschätzen zu können, muß man auf eine Funktion zurückgreifen, die wegen ihres schwindelerregenden Wachstums den Namen Wow erhalten hat. Sie entstammt der Ramsey-Theorie, einem Teilgebiet der Kombinatorik (Spektrum der Wissenschaft, September 1990, Seite 112). Die Gruppen (die entsprechend wowzers genannt werden) haben so viele Elemente, daß sie nur mit äußerster Mühe von unendlichen zu unterscheiden sind. Hier liegt ein Grund für die Schwierigkeit der Aufgabe, die Zelmanov bewältigt hat.

Und wie beweist man nun die eingeschränkte Burnside-Vermutung? Die Einzelheiten wollte Zelmanov in seinem Vortrag auf dem Mathematiker-Kongreß selbst seinen Fachkollegen nicht zumuten. Aber man kann immerhin soviel sagen, daß der Weg zum Beweis über algebraische Strukturen führt, deren Rechenregeln deutlich komplizierter sind als die für Gruppen: Jordan-Algebren. Der Physiker Ernst Pasqual Wilhelm Jordan (1902 bis 1980) hatte sie in den dreißiger Jahren eingeführt, um die Probleme der Quantenmechanik geschickter zu formalisieren.

In diesem Zweig der Physik macht es einen Unterschied, in welcher Reihenfolge man zwei verschiedene Messungen A und B an demselben System ausführt; dieser Unterschied (der Kommutator AB-BA der Operatoren A und B) ist die Verknüpfungsoperation, welche die sogenannten Lie-Algebren definiert (benannt nach dem norwegischen Mathematiker Sophus Lie, 1842 bis 1899). In Jordan-Algebren steht das Plus- anstelle des Minuszeichens, wodurch sich die algebraische Struktur grundlegend verändert.

Die wesentlichen Teile von Zelmanovs Beweis verlaufen also über fremdes Territorium: das der Lie- und Jordan-Algebren. Walter Feit von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) ging in seiner Laudatio auf Zelmanov sogar so weit zu sagen, die eingeschränkte Burnside-Vermutung sei das Problem in der Theorie der Lie-Algebren. Dadurch, daß Zelmanov Anfang der achtziger Jahre die Theorie der Jordan-Algebren "revolutionierte" (so Feit), hat er selbst die Basis für seine preisgekrönte Leistung bereitgestellt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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